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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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diesem Film haben wir also dich gesehen?«
    »Wir? Wer sind wir? Hast du das etwa noch anderen gezeigt? Niemand sollte das sehen! Niemand! Du darfst das niemandem zeigen!«
    Andrés war sehr erregt, und Sigurður Óli versuchte, ihn zu beruhigen, indem er ihm sagte, dass er eine Lippenleserin hinzugezogen hatte, um herauszufinden, was der Junge in dem Film rief. Sonst hatte niemand den Film gesehen, fügte er hinzu, diese Lüge war seiner Ansicht nach zu vertreten. Er hatte bislang noch nichts weiter unternommen, er wollte erst einmal selber herausfinden, ob es einen Grund gab, den Film an die Abteilung für Sexualverbrechen weiterzuleiten und Zeit und Leute darauf anzusetzen.
    »Bist du das in dem Film?«
    »Ja, das bin ich«, sagte Andrés dumpf. »Wer denn sonst?«
    Er schwieg und trank wieder einen Schluck.
    »Und du hast lange gebraucht, um den Film zu finden? Wo hast du ihn gefunden?«
    »Meine Mutter, weißt du … Sie war nicht … Sie war keine starke Frau, sie wurde nicht mit ihm fertig, verstehst du«, sagte Andrés, der in gewohnter Weise nicht auf Fragen einging. Er hatte sich längere Zeit nicht rasiert, aber der Bartwuchs war spärlich. Sein Gesicht war schmutzig, und unter einem Auge befand sich eine blutige Quetschung, die von einer Schlägerei oder von einem Zusammenprall mit einem Gegenstand stammen konnte. Die kleinen grauen Augen waren schwimmend feucht und wirkten nahezu farblos, und die geschwollene Nase war schief. Möglicherweise hatte er sie sich irgendwann einmal gebrochen und nichts unternommen, vielleicht in den Jahren, als die Busstation am Hlemmur seine einzige warme Zuflucht gewesen war.
    »Über wen sprichst du? Mit wem wurde sie nicht fertig?«
    »Er hat sie ausgenutzt, verstehst du? Sie hat ihn bei sich aufgenommen, er besorgte ihr Schnaps und Drogen. Um mich hat sich niemand gekümmert. Er konnte mit mir machen, was er wollte.«
    Die Stimme war heiser und undeutlich, aber voll aufgestauter Wut, voll Abscheu.
    »Gibt es noch mehr Filme?«
    »Er hat sich daran geweidet, diese Filme zu drehen«, sagte Andrés. »Er besaß ein Vorführgerät, das er in einer Schule irgendwo auf dem Land geklaut hatte. Und er besaß alle möglichen Pornofilme, die damals auf den Schiffen ins Land geschmuggelt wurden.«
    Andrés verstummte wieder.
    »Sprichst du über einen Mann, der Rögnvaldur heißt?«, fragte Sigurður Óli.
    »Weißt du, wer das ist?«, sagte Andrés, der vor sich hinstarrte.
    »Im vergangenen Januar haben wir wegen einer Ermittlung mit dir gesprochen«, sagte Sigurður Óli. »Weißt du noch? Neulich hast du dich doch daran erinnert. Damals haben wir dich nach diesem Rögnvaldur gefragt. War er nicht dein Stiefvater?«
    Andrés schwieg.
    »Er hat also den Film gemacht, den du uns geschickt hast?«, fragte Sigurður Óli.
    »Ihm fehlt ein Zeigefinger. Er hat mir nie gesagt, warum, aber ich habe mich manchmal damit getröstet, dass das weh getan haben muss, dass er vor Schmerzen gebrüllt hat und dass es ihm recht geschah.«
    »Du meinst Rögnvaldur?«
    Andrés senkte den Kopf und nickte zögernd.
    »Wann war das?«
    »Das ist lange her, viele Jahre.«
    »Wie alt warst du?«
    »Zehn. Als es anfing.«
    »Also um 1970? Wir haben versucht, die Zeit genauer zu bestimmen.«
    »So was lässt einen nie wieder los«, sagte Andrés so leise, dass Sigurður Óli ihn kaum verstehen konnte.»Egal, wie sehr man es versucht. Man kann es einfach nicht von sich abschütteln. Ich habe versucht, die Erinnerung daran mit Alkohol auszulöschen, aber das bringt auch nichts.«
    Andrés richtete sich auf und blickte wieder zum Himmel. Es hatte den Anschein, als suche er in den Wolken nach etwas. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab.
    »Die Teufelei hat zwei Jahre gedauert, praktisch ununterbrochen. Und dann ging er.«

Dreißig
    Einer der Stadtbusse fuhr geräuschvoll die Suðurgata entlang Richtung Stadtmitte, und vom Kirkjugarðsstígur hörte man lautes Gelächter. Das Leben in der Stadt ging weiter seinen gewohnten Gang, aber auf dem Friedhof bei Andrés schien die Zeit stillzustehen. Sigurður Óli wartete darauf, dass Andrés von sich aus weitersprach, er wollte ihn nicht drängen. Minuten vergingen. Unterdessen öffnete Andrés die zweite Flasche und nahm einen großen Schluck, bevor er sie wieder in die Tüte zu der anderen steckte. Aber es machte nicht den Eindruck, als habe er sich in seine eigene Welt zurückgezogen. Als er keinerlei Anstalten machte, mit der Geschichte fortzufahren,

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