Abgründe
räusperte sich Sigurður Óli.
»Weshalb jetzt?«, fragte er.
Er war sich nicht sicher, ob Andrés ihn hörte.
»Weshalb jetzt, Andrés?«
Andrés wandte den Kopf und sah Sigurður Óli lange wie einen völlig Unbekannten an.
»Was?«, sagte er.
»Weshalb erzählst du uns jetzt davon?«, fragte Sigurður Óli. »Selbst wenn wir diesen Rögnvaldur finden würden, die Sache ist längst aus der Welt, längst verjährt. Wir können da gar nichts mehr unternehmen. Kein Gesetz kann ihm etwas anhaben.«
»Nein«, sagte Andrés träge. »Ihr könnt nichts machen. Ihr habt nie was machen können.«
Andrés verstummte wieder.
»Was ist aus diesem Rögnvaldur geworden?«
»Er zog bei uns aus, danach ließ er sich nie wieder blicken«, sagte Andrés. »Ich hörte die ganzen Jahre nichts von ihm. Er war einfach verschwunden.«
»Und dann?«
»Dann habe ich ihn wiedergesehen. Das hab ich euch gesagt.«
»Wir haben ihn seinerzeit nicht gefunden. Wir sind dem allerdings auch nicht weiter nachgegangen, nachdem unser Fall gelöst war und sich herausstellte, dass er nichts damit zu tun hatte. Und das, was du uns seinerzeit gesagt hast, hat uns nicht weitergeholfen. Du hast nur irgendwelche vagen Andeutungen gemacht und wolltest nichts aussagen. Weshalb willst du also jetzt darüber reden?«
Sigurður Óli wartete auf eine Antwort, aber Andrés sagte keinen Ton, sondern starrte auf seine Füße.
»Wenn ich mich richtig erinnere, hast du damals angedeutet, dass er jemanden in deinem Alter umgebracht hat. Darüber haben wir nichts in unseren Archiven gefunden. Hast du dich damals selber gemeint? Hast du das, was er dir angetan hat, so empfunden? Dass er etwas in dir umgebracht hat?«
»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er mich tatsächlich umgebracht hätte«, antwortete Andrés. »Vielleicht wäre das besser gewesen. Ich weiß nicht mehr, was ich euch gesagt habe. Ich bin … Ich fühle mich elend, und das schon seit Langem.«
»Es gibt Hilfe für Menschen wie dich«, sagte Sigurður Óli. »Für Menschen, die so etwas durchgemacht haben. Hast du dich an solche Institutionen gewandt?«
Andrés schüttelte den Kopf. »Ich wollte dich treffen, um dir zu sagen … Um dir zu sagen – egal was passiert, egal wie das alles ausgeht –, dass es nicht ganz und gar meine Schuld ist. Verstehst du das? Nicht alles ist meine Schuld. Ich möchte, dass du das weißt, dass ihr das wisst.«
»Wie was ausgeht?«, fragte Sigurður Óli. »Was meinst du damit?«
»Es wird sich zeigen.«
»Hast du diesen Rögnvaldur aufgespürt?«
Andrés antwortete nicht.
»Ich kann dich nicht gehen lassen, ohne dass du mir das sagst. Du kannst nicht einfach irgendwelche Andeutungen machen und dann Schluss.«
»Ich will gar nichts entschuldigen. Die Lage ist so, wie sie ist, und daran lässt sich nichts ändern. Nachdem er gegangen war, habe ich versucht zu … Habe ich versucht, mich aufzurappeln, aber ich … das … Ich konnte es nicht betäuben oder aus dem Bewusstsein verbannen. Ich fand heraus, wie ich es mit Schnaps und Rauschmitteln in den Hintergrund drängen konnte, und dann ging es nur noch darum, an das Zeug heranzukommen, an diejenigen, die es mir verschaffen konnten, um es auf diese Weise irgendwie in Schach zu halten. Gleich, nachdem er fort war. Ich hatte schon mit zwölf zum ersten Mal einen Rausch. Ich habe gesnifft, ich hab alles genommen, was mir unter die Finger kam. So war es einfach. Ich will gar nichts entschuldigen.«
Wieder verstummte Andrés. Er hustete und holte die Flasche aus der Tüte.
»Es wird sich zeigen«, sagte er.
»Was?«
»Es wird sich zeigen.«
»Ich habe gehört, dass du mal polstern gelernt hast«, sagte Sigurður Óli. Er wollte versuchen, so lange wie möglich mit Andrés zu reden, ihn dazu bringen, sich zu öffnen und möglicherweise mehr über diesen Rögnvaldur preiszugeben. Man brauchte kein Sachverständiger zu sein, um zu sehen, dass Andrés geistig wie körperlich vor dem Zusammenbruch stand.
»Ich hab manchmal versucht, mich zusammenzureißen«, sagte Andrés. »Aber es hat nie lange vorgehalten.«
»Hast du in letzter Zeit irgendwelche Lederarbeiten gemacht?«, erkundigte sich Sigurður Óli vorsichtig.
»Was meinst du damit?«, sagte Andrés und schien mir einem Mal auf der Hut zu sein.
»Deine Nachbarin hatte Angst um dich«, sagte Sigurður Óli. »Sie glaubte, dir könnte etwas zugestoßen sein, und wir sind in deine Wohnung gegangen. Ich habe Lederschnipsel in der Küche
Weitere Kostenlose Bücher