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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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gefunden, und als ich die zusammenlegte, entstand etwas wie ein Gesicht.«
    Andrés schwieg.
    »Was hast du da zurechtgeschnitten?«
    »Nichts«, sagte Andrés, der jetzt in alle Richtungen spähte, wie um einen Fluchtweg zu finden. »Ich weiß überhaupt nicht, weshalb ihr in meiner Wohnung wart. Ich kapier das nicht.«
    »Deine Nachbarin war besorgt«, wiederholte Sigurður Óli.
    »Das hast du ihr eingeredet.«
    »Nein, gar nicht.«
    »Du hattest kein Recht, meine Wohnung zu betreten.«
    »Was hast du mit dem Leder gemacht?«
    »Das geht dich nichts an.«
    »Wir haben damals im Januar Kinderpornos bei dir gefunden, erinnerst du dich?«, fragte Sigurður Óli.
    »Ich …« Andrés verstummte.
    »Was hast du damit gemacht?«
    »Du verstehst das nicht«, sagte Andrés.
    »Nein.«
    »Ich … Ich verachte niemanden mehr als mich selber … Ich …«
    Andrés verstummte wieder.
    »Wo ist Rögnvaldur?«, fragte Sigurður Óli.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich kann dich nicht gehen lassen, ohne dass du es mir sagst.«
    »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Doch dann erinnerte ich mich auf einmal daran, wie der Bauer das mit dem Eisenstift gemacht hat. Da wusste ich, wie ich es hinkriegen könnte.«
    »Eisenstift?«
    »Er ist nicht dicker als ein Ein-Kronen-Stück.«
    Andrés war kaum noch zu verstehen.
    »Wo ist Rögnvaldur?«, fragte Sigurður Óli wieder. »Weißt du, wo er ist?«
    Andrés gab ihm keine Antwort darauf, er starrte schweigend auf den Boden.
    »Ich wollte immer dorthin zurück«, sagte er dann. »Aber ich habe es nie geschafft.« Wieder Schweigen.
    »Rögnvaldur war ein gottverdammter Unmensch. Ich empfinde nichts als Verachtung für ihn – und Abscheu. Abscheu!«
    Andrés richtete seinen starren Blick in irgendeine unendliche Ferne, auf Ereignisse, die nur er kannte, und dorthin richtete sich auch sein Flüstern, das Sigurður Óli kaum verstehen konnte.
    »Am meisten aber verabscheue ich mich selbst.«
    In diesem Augenblick meldete sich Sigurður Ólis Handy, und die Stille auf dem Friedhof wurde jäh durchbrochen. Er beeilte sich, es aus seiner Manteltasche zu ziehen und sah, dass es Patrekur war. Er zögerte, wusste nicht, ob er sich für Andrés oder das Gespräch entscheiden sollte, sah Andrés an und dann wieder das Display. Er entschloss sich zu antworten.
    »Ich muss mit dir reden«, sagte er, noch bevor Patrekur etwas sagen konnte.
    »In Ordnung«, sagte Patrekur.
    »Du hast mich belogen«, sagte Sigurður Óli.
    »Was?«
    »Findest du das in Ordnung, mich anzulügen?«
    »Was ist denn …«
    »Findest du es in Ordnung, mich anzulügen und mich in Schwierigkeiten zu bringen?«
    »Was soll das?«, entgegnete Patrekur. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«
    »Du hast gesagt, du hättest Lína nie in deinem Leben getroffen.«
    »Ja.«
    »Behauptest du das etwa immer noch?«
    »Immer noch? Wovon redest du eigentlich?«
    »Ich rede über dich, Patrekur! Und mich!«
    »Jetzt reg dich doch bloß nicht so auf. Ich habe keine Ahnung, was du mit deinem Gefasel andeuten willst.«
    »Du hast eine Gletscherfahrt mit ihr unternommen, du Idiot!«, sagte Sigurður Óli. »Zusammen mit noch ein paar anderen Idioten. Erinnerst du dich vielleicht jetzt? Das war vor einem Jahr. Erinnerst du dich jetzt an Lína?«
    Patrekur schwieg lange.
    »Sollten wir nicht miteinander reden?«, fragte er schließlich.
    »Und ob, du Idiot«, zischte Sigurður Óli ins Telefon.
    Er hatte Andrés während des Anrufs den Rücken zugewendet, um in Ruhe sprechen zu können, und als er sich jetzt wieder umdrehte, war Andrés spurlos verschwunden.
    Er reagierte rasch, beendete das Gespräch und ging auf demselben Weg zurück, auf dem er gekommen war. Wohin er auch blickte, Andrés war nirgends zu sehen. Er lief kreuz und quer über den Friedhof und hielt Ausschau nach allen Richtungen, ohne Erfolg. Andrés war ihm durch die Lappen gegangen.
    »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte er laut und blieb stehen. Andrés hatte sich blitzschnell aus dem Staub gemacht, und er konnte durch jedes beliebige Friedhofstor entwischt sein, während Sigurður Óli mit Patrekur gesprochen hatte.
    Sigurður Óli ging die Ljósvallagata hinauf, setzte sich in seinen Wagen und fuhr los. Er verbrachte einige Zeit damit, im Auto die umliegenden Straßen abzuklappern, in der Hoffnung, irgendwo auf Andrés zu stoßen, aber seine Suche blieb erfolglos.
    Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Sigurður Óli hatte nach wie vor keine Ahnung, wo er sich

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