Abgründe
irgendwo abholen?«
»Wo ich bin? Wen kümmert das? Wer unternimmt denn schon was? Niemand! Niemand hat je etwas unternommen. Und jetzt … jetzt hab ich ihn, das verfluchte Scheusal.«
»Wen?«, fragte Sigurður Óli. »Wen hast du?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Sigurður Óli wartete ab. Eine ganze Weile hörte er gar nichts, und dann sprach Andrés auf einmal weiter, er schien sich einen Ruck gegeben zu haben.
»Ich … ich hab ihn mir geschnappt! Das wollte ich dir auf dem Friedhof sagen. Ich wollte dir sagen, dass ich ihn habe. Und er kommt nicht los. Mach dir keine Gedanken, er kommt nicht los. Ich habe … Ich habe eine Maske gemacht, und damit war er … Das fand er nicht gut. Er fand auch nicht gut, mich zu sehen, nach all diesen Jahren, das kann ich dir sagen. Er hat sich nichtgefreut, Klein-Drési zu sehen, nein. Nein, das hat er nicht.«
»Wo bist du, Andrés?«, fragte Sigurður Óli mit Nachdruck. Auf dem Display sah er die Nummer. Er gab sie ins Internet-Telefonbuch ein, und auf dem Monitor erschienen Name und Adresse von Andrés. »Ich kann dir helfen«, sagte Sigurður Óli. »Lass mich dir doch helfen, Andrés. Bist du in deiner Wohnung?«
»Und ich konnte es mit ihm aufnehmen«, fuhr Andrés fort, als hätte er Sigurður Óli gar nicht gehört. »Ich … Ich hatte gedacht, es würde vielleicht schwierig werden. Aber er ist nur noch ein altes Wrack.«
»Sprichst du von Rögnvaldur? Hast du Rögnvaldur in deiner Gewalt?«
Die Verbindung brach ab. Sigurður Óli rannte los, rief die Auskunft an und bat um die Nummer von Andrés’ Nachbarin. Er wusste die Adresse, konnte sich aber auf die Schnelle nicht auf den Namen besinnen, er überlegte angestrengt.
Margrét Eymunds.
Er wurde durchgestellt. Als Margrét beim dritten Klingeln an den Apparat ging, saß Sigurður Óli bereits in seinem Auto. Er nannte seinen Namen, und als er sicher sein konnte, dass die Frau sich an seinen früheren Besuch erinnerte, bat er sie, zu ihrem Nachbarn zu gehen und nachzuschauen, ob er zu Hause sei.
»Meinst du Andrés?«, fragte sie.
»Würdest du bitte versuchen, ihn so lange aufzuhalten, bis ich eintreffe, wenn er zu Hause sein sollte? Würdest du das bitte für mich tun? Er hat mich angerufen, und ich glaube, dass er Hilfe braucht. Machst du das bitte?«
»Was denn, willst du etwa, dass ich für dich spioniere?«
»Sprichst du von einem schnurlosen Telefon?«
»Ja.«
»Ich versuche, ihm zu helfen. Ich habe das Gefühl, dass er sich etwas antun könnte. Würdest du ihm dein Telefon geben, damit ich mit ihm reden kann?«
»Moment mal.«
Er hörte am Telefon, dass sich eine Tür öffnete, dann hörte er, wie Margrét anklopfte und nach Andrés rief. Sigurður Óli musste die Fahrt verlangsamen und fluchte. Es war ein Unfall passiert, und der Verkehr war ins Stocken geraten.
»Andrés, du siehst ja schrecklich aus«, hörte er Margrét sagen.
Sigurður Óli drückte wie wild auf die Hupe und versuchte, die Spur zu wechseln. Andrés war nicht zu hören, und Margrét konnte er nur so weit verstehen, dass sie ihm sagte, ein Mann von der Kripo wolle mit ihm sprechen, und die Frage, wo er hin wolle, und dann glaubte Sigurður Óli zu hören, wie sie in mütterlichem Ton zu ihm sagte, er könne sich doch so nicht auf der Straße blicken lassen. Er versuchte, mit Margrét zu reden, aber sie hatte offensichtlich den Apparat nicht am Ohr.
Er hatte inzwischen die Unfallstelle passiert und überholte die anderen Autos in rasendem Tempo, als Margrét sich wieder meldete.
»Hallo?«, sagte sie mit unsicherer Stimme.
»Ja, ich bin noch dran«, sagte Sigurður Óli.
»Der arme Mann«, entgegnete Margrét. »Er sah fürchterlich aus.«
»Ist er weg?«
»Ja, ich konnte ihn nicht zurückhalten. Er wollte gar nicht mit mir reden, ist einfach nur irgendwie die Treppe hinunterklabastert. Ich hatte den Eindruck, dass er schwer betrunken war.«
»In welche Richtung ist er gegangen, als er auf der Straße war?«
»Das habe ich nicht gesehen. Ich hab nicht sehen können, wo er hinging.«
Als Sigurður Óli schließlich das Haus erreichte, hielt er Ausschau nach Andrés, sah ihn aber nirgends. Er drehte ein paar Runden durch die umliegenden Straßen, aber der Mann war ihm wieder entwischt. Also fuhr er zurück zu Andrés’ Wohnung, parkte und klingelte bei Margrét. Sie ließ ihn ins Haus und erwartete ihn mit besorgter Miene auf dem Treppenabsatz.
»Hast du ihn gefunden?«, fragte sie, als Sigurður Óli
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