Abgründe
gewartet, als ein Mann und ein junges Paar aus dem Konferenzzimmer herauskamen. Der blonde, kräftige Mann hatte ein seltsam kindliches Gesicht. Er trug einen sündhaft teuren Anzug und verabschiedete sich lächelnd von seinen Gesprächspartnern, wobei ererklärte, er werde ihnen nähere Informationen über Geldmarkt-Konten zukommen lassen. Anschließend wandte er sich Sigurður Óli zu.
»Du wartest wohl auf mich?«, fragte er, immer noch lächelnd.
»Wenn du Knútur bist«, sagte Sigurður Óli.
»Das passt. Geht es um Unternehmensberatung?«
»Eigentlich nicht. Ich bin von der Kriminalpolizei und würde gern etwas mehr darüber erfahren, was seinerzeit passiert ist, als dein Kollege Þorfinnur ums Leben kam. Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.«
»Wieso das denn? Wird das wieder aufgerollt?«
»Wir sollten vielleicht lieber nicht hier auf dem Flur miteinander reden.«
Knútur sah Sigurður Óli eine Weile an, bevor er einen Blick auf seine Armbanduhr warf. Er erklärte, dass seine Zeit äußerst knapp bemessen sei, aber er könne ihn dazwischenschieben, auch wenn er keine Ahnung hätte, worum es ging. Sigurður Óli rührte sich nicht vom Fleck, schwieg und wartete darauf, dass Knútur ihn endlich in sein Büro führte.
Achtunddreißig
Das, was Knútur über die Ereignisse zu sagen hatte, als sein Kollege Þorfinnur vor einem Jahr auf Snæfellsnes tödlich verunglückt war, stimmte ziemlich genau mit dem überein, was in den Polizeiberichten stand. Er und seine drei Kollegen waren zu einem Arbeitswochenende ins Hotel Búðir gefahren und hatten sich dort für zwei Nächte einquartiert. Es ging zwar in erster Linie um die Erledigung von geschäftlichen Dingen, aber sie wollten sich auch ein wenig auf der Halbinsel umsehen. Sie waren am Freitagnachmittag in zwei Jeeps zusammen losgefahren, und als sie abends am Hotel eintrafen, war es windstill und frostig gewesen. Am Samstag hatten sie sich Zeit für Ausflüge genommen. Zwei von ihnen, Knútur und Arnar, schlossen sich einer Gruppe von Reisenden an, die auf den Snæfellsjökull hinauf wollten. Die beiden anderen, Sverrir und Þorfinnur, fuhren zu den Steilklippen von Svörtuloft an der westlichsten Spitze der Halbinsel. Nachmittags wollten sie sich wieder im Hotel treffen. Im Laufe des Tages war aber unvorhergesehenerweise ein Tief herangerückt, und es begann zu stürmen und zu schneien. Die beiden Männer, die die Gletscherexpedition unternommen hatten, kehrten zur vereinbarten Zeit ins Hotel zurück, aber die beiden anderen, die nach Svörtuloft gefahrenwaren, ließen auf sich warten. Sie hatten keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, denn im Hotel wusste man, wo sie hinwollten.
Die Handys von Sverrir und Þorfinnur hatten kein Netz mehr, als sie von der Landstraße auf die Jeep-Piste einbogen, die zur Steilküste führte.
Nur einer der beiden kehrte von Svörtuloft zurück. Sobald Sverrir wieder Empfang hatte, meldete er sich telefonisch und sagte, dass er nicht wüsste, was aus Þorfinnur geworden war. Sverrir hatte nach einer Stunde Wanderung genug und wollte zurück zum Auto, doch Þorfinnur wollte unbedingt weitergehen, und sie vereinbarten, dass Sverrir mit dem Jeep nach Beruvík fahren sollte, um Þorfinnur dort abzuholen. Als Sverrir dort eintraf, war Þorfinnur nirgends zu sehen. Er hatte eine ganze Weile gewartet und dann mindestens eine Stunde nach ihm gesucht. Unterdessen verschlimmerte sich das Wetter zusehends. Er fragte seine Kollegen, ob sie etwas von Þorfinnur gehört hatten, doch das hatten sie nicht. Seit sich ihre Wege getrennt hatten, waren drei Stunden vergangen. Knútur und Arnar fuhren daraufhin ebenfalls zu den Lavafelsen an der Westspitze der Halbinsel, dort suchten sie zu dritt nach ihrem Kollegen. Zu guter Letzt entschlossen sie sich, die Polizei und die Rettungsmannschaften zu verständigen.
Als die Suchmannschaft bei der Wetterstation Gufuskálar eintraf und nach Svörtuloft fuhr, war es bereits stockfinster und das Unwetter hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die drei Kollegen nahmen ebenfalls an der Suche teil. Sverrir zeigte ihnen, wo genau Þorfinnur und er sich getrennt hatten, aber das war auch das Einzige, was er beisteuern konnte. Die Lava-Felder in dieser Gegend waren sehr unwegsam, und Dunkelheit und Unwetter zwangen die Rettungsmannschaft nach ein paar Stunden zum Rückzug. Am nächsten Morgen wurde bei Tagesanbruch weitergesucht, und man ging die ganze Küstenstrecke mit den Lava-Klippen ab.
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