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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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Das Meer peitschte die schwarzen Felsen, und der Sturm tobte immer noch so sehr, dass man am Klippenrand kaum stehen konnte.
    Von den Einheimischen in der Rettungsmannschaft erfuhren sie, woher die Klippen ihren Namen hatten. Seeleute hatten die steil aufragenden schwarzen Felsen »Svörtuloft« genannt, weil an ihnen nicht wenige Fischerboote gestrandet und die bedrohlichen Klippen häufig das Letzte waren, was die Schiffbrüchigen vor Augen hatten. Überall waren tiefe Spalten, Abgründe und gefährliche Risse an der Kante, wo wegen der ständig anbrandenden See auch immer wieder Felsbrocken abbrachen. Man ging davon aus, dass Þorfinnur dem Klippenrand zu nahe gekommen sein musste, dass die Kante nachgegeben hatte oder dass er gestolpert und in die Tiefe gestürzt war.
    »Er wurde nicht gefunden«, sagte Knútur zu Sigurður Óli. »Er war wortwörtlich wie vom Erdboden verschluckt. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal erleben würde.«
    »Er wurde im nächsten Frühjahr gefunden«, sagte Sigurður Óli.
    »Ja, genau. Ich kann dir nicht beschreiben, wie entsetzlich das alles war. Grauenvoll. Þorfinnur hatte keine Familie, er war Junggeselle, aber das ist natürlich kein Trost.«
    »Spielt das für dich eine Rolle?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Es ist jetzt ein Jahr her.«
    »Ja.«
    »Soweit ich weiß, kannte sich keiner von euch in der Gegend aus«, sagte Sigurður Óli.
    »Doch, Sverrir. Er stammt von dort und kennt sich aus … Also deswegen … Nein, ich kenne mich dort nicht aus. Ich bin zum ersten Mal auf diesem Gletscher gewesen. Ich weiß nicht, ob ich da jemals wieder hin möchte.«
    »Die Obduktion ergab nur, dass Þorfinnur an den Folgen eines Unfalls gestorben sein musste. Schwedische Touristen haben ihn in einer kleinen, sandigen Bucht gefunden, wo die Leiche angetrieben worden war. Sie war nach all dieser Zeit vollkommen unkenntlich, aber man konnte ihn trotzdem identifizieren. Wie gesagt, das Ergebnis lautete Unfalltod, er muss dem Klippenrand zu nahe gekommen und abgestürzt sein.«
    »Ja, so muss es wohl gewesen sein.«
    »Ihr habt alle vier hier in dieser Bank gearbeitet?«
    »Ja.«
    »Und Sverrir war der Letzte, der Þorfinnur lebend gesehen hat?«
    »Ja. Er hat es natürlich sehr bereut, dass er ihn alleine ließ. Sverrir gibt sich wohl die Schuld daran, wie es gelaufen ist. Aber es ist natürlich nicht seine Schuld. Þorfinnur konnte manchmal sehr dickköpfig und unnachgiebig sein.«
    »Er wollte unbedingt alleine weitergehen?«
    »Ja, so hat es Sverrir uns gesagt. Þorfinnur war total begeistert von der wilden Landschaft.«
    Das Handy des Bankers klingelte, er warf einen Blick auf die Nummer und entschuldigte sich bei Sigurður Óli, er müsse das Gespräch annehmen. Er saß an seinem Schreibtisch und drehte sich auf dem Stuhl zur Seite, um in Ruhe sprechen zu können. Es entging Sigurður Óli aber nicht, dass sich das Gespräch um ein kleines Kammerensemble drehte.
    »Wie bist du an diese Musiker herangekommen, die neulich bei dir gespielt haben?«, fragte Knútur. »Nein, es dreht sich nur um eine kleine Essenseinladung bei mir«, antwortete er auf die nächste Frage seines Gesprächspartners. »Ja, ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber es hat einfach so viel Stil. Einer der Eigner wird auch kommen. Ich fand es wirklich smart, dass du die bei dir hast spielen lassen.«
    Er notierte sich etwas auf einem Zettel und beendete das Gespräch kurz darauf, um sich wieder Sigurður Óli zuzuwenden.
    »Sonst noch etwas?«, fragte er mit einem Seitenblick auf die Uhrzeit auf seinem Bildschirm. Anscheinend hatte er keine Zeit, sich noch länger mit Sigurður Óli zu unterhalten.
    »Wart ihr alle vier mit den gleichen Aufgaben betraut?«
    »Nein, aber einiges hat sich überschnitten. Wir arbeiteten in vieler Hinsicht zusammen.«
    »Kannst du mir etwas mehr darüber erzählen?«
    »Nein, das sind Firmeninterna. Es gibt nicht umsonst das Bankgeheimnis. Ich kann dir nur so viel sagen, dass wir hier für Großkunden arbeiten.«
    Knútur lächelte.
    Sigurður Óli hörte sehr genau den herablassendenTon heraus, in dem Knútur mit ihm sprach. Der Banker war um einiges jünger als er, aber höchstwahrscheinlich fünfzigmal reicher, dieser Mann mit dem kindlichen Gesicht, der Kammermusiker zu einer Essenseinladung engagierte. Zwar bewunderte Sigurður Óli solche Leute, die es aus eigener Anstrengung im Leben zu etwas gebracht hatten, aber er verspürte keinen Neid ihnen gegenüber. Knúturs

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