Abgründe
ist prima. Er spielt Klavier.«
»Hast du ihm gesagt, dass …«
Er hatte diese Frage geäußert, ohne nachzudenken, aber mitten im Satz merkte er, dass sie völlig deplatziert war. Die unausgesprochenen Worte lagen jedoch in der Luft, und Bergþóra wusste ganz genau, was er hatte fragen wollen. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass irgendwann der Unmut durchbrechen würde.
»Muss es wirklich so enden?«, sagte sie.
»Nein, natürlich nicht. Ich wollte nicht … Ich hab an dem Abend bei dir angerufen, weil ich dich fragen wollte, ob wir nicht versuchen sollten, unsere Beziehung wieder zu flicken. Da war es aber schon zu spät. Das ist meine Schuld. Ich kann niemand anderem die Schuld geben. So gesehen hast du recht.«
»Ich habe ihm gesagt, dass ich keine Kinder bekommen kann.«
»Da habe ich erst begriffen, dass es wirklich vorbei ist«, sagte Sigurður Óli. »Als ich dich an dem Abend angerufen habe.«
»Du bist manchmal genau wie deine Mutter«, sagte Bergþóra irritiert.
»Und ich wollte dir sagen, wie leid mir alles tut, wie dumm das alles war.«
»Es tut mir auch leid«, sagte Bergþóra. »Aber es ist vorbei.«
»Ich glaube, es hat nichts mit meiner Mutter zu tun«, sagte Sigurður Óli.
»Mehr, als du denkst«, sagte Bergþóra und leerte ihr Glas.
Vierzig
Der Lehrer fragte ihn wieder, weshalb er so bedrückt sei. Es war in der Naturkundestunde. Er hatte seine Hausaufgaben nicht gemacht und befürchtete, dass er nach etwas gefragt wurde, was er nicht wusste. Der Lehrer hatte sich schon vor ein paar Tagen nach seinem Befinden erkundigt, und da hatte er genauso wenig gewusst, was er antworten sollte. Er interessierte sich für Naturkunde, hatte sich aber nicht zu Hause vorbereitet, weder für Naturkunde noch für Rechnen noch für irgend etwas anderes. Er wusste, dass er hinter den anderen zurückblieb, aber er schaffte es einfach nicht, sich am Riemen zu reißen. Dazu war er viel zu kraftlos. Und zu willenlos. Er hatte kaum noch Kontakt zu den Kindern, die er anfangs kennengelernt hatte. Er wusste nicht, dass er bedrückt wirkte, und er war nicht imstande, auf die Frage des Lehrers zu antworten. Er sah ihn nur an und sagte nichts.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Andrés?«, fragte der Lehrer.
Die ganze Klasse glotzte. Warum musste der Lehrer so etwas fragen? Weshalb konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
»Nein«, antwortete er.
Aber es war nicht alles in Ordnung.
Er lebte in ständiger Panik. Rögnvaldur hatte gesagt, er würde ihn umbringen, wenn er irgendjemandem erzählte, was sie da machten. Dieser Drohung bedurfte es aber überhaupt nicht, er hätte nie im Leben zu irgendjemandem über so etwas sprechen können. Was hätte er auch sagen sollen? Er hätte es nicht einmal in Worte fassen können, und sein ganzes Sinnen und Trachten war darauf gerichtet, sämtliche Gedanken daran zu verdrängen.
An das Widerwärtige, das er irgendwo wegschließen musste, wo niemand daran rühren konnte.
Er schloss es dort ein, wo Blut und Tränen die Wände herunterliefen und seine Schreie nie gehört wurden.
Der Lehrer merkte, dass dem Jungen die Aufmerksamkeit, die sich auf ihn richtete, unangenehm war, und ging zu etwas anderem über, indem er Andrés bat, ihm zwei mehrjährige Pflanzen zu nennen, was der Junge nach einigem Zögern tat. Der Lehrer wandte sich dem nächsten Schüler zu, und die Aufmerksamkeit wurde von ihm abgelenkt.
Er atmete auf. Bedrückt. Seit er zu seiner Mutter zurückgekehrt war, war er nicht mehr froh gewesen. Sein Leben war zu einem einzigen unaufhörlichen Albtraum geworden. Er fürchtete sich davor, morgens aufzuwachen, und er fürchtete sich davor, abends einzuschlafen. Er fürchtete sich davor, in die Schule zu gehen und davor, dass ihm diese Fragen gestellt wurden, weshalb er so bedrückt war, ob er keine sauberen Sachen zum Anziehen hatte, weshalb er kein Pausenbrot dabeihatte. Er fürchtete sich vor dem Aufwachen, denn sobald er wach war, erinnerte er sich an alles. Er fürchtete sich vor dem Einschlafen, weil er nie wusste, wann Rögnvaldurin der Nacht auftauchen und ihn mitnehmen würde. Er fürchtete sich vor dem Tag, weil er dann ganz allein auf der weiten Welt war.
Seine Mutter war nie zu Hause, wenn es geschah, aber sie wusste sehr genau, was im Gange war. Er wusste, dass sie es wusste, denn einmal hatte er gehört, wie sie Rögnvaldur bat, ihren Jungen in Ruhe zu lassen. Sie war wie immer betrunken.
»Misch dich da nicht ein«, hatte Rögnvaldur
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