Abgründe
dieser Zukunftsperspektive umgehen sollte. Er hatte sich endlich dazu durchgerungen, ihrer Beziehung noch einmal eine Chance zu geben, sein Bestes zu geben – und nun war es zu spät. Wut stieg in ihm hoch. Sie hatte über Gefühlskälte und Snobismus bei ihm und seiner Mutter gesprochen. Er konnte sich nicht erinnern, in ihrer ganzen Beziehung jemals etwas Negatives über Bergþóra gesagt zu haben.
Sigurður Óli fühlte sich müde und deprimiert. Am liebsten wäre er nach Hause gefahren, aber ihm gingen zu viele Fragen durch den Kopf. Auch wenn sie eigentlich nichts miteinander zu tun hatten, wollte er unbedingt die Meinung seiner Mutter dazu hören. Eine der Fragen hatte damit zu tun, dass sie seine Mutter war, eine andere zielte darauf ab, was sie als Wirtschaftsberaterin von der sogenannten isländischen Expansion und dem gigantischen Wachstum der Banken hielt.
Gagga wunderte sich etwas über seinen späten Besuch. Sigurður Óli ging mit ihr in die Küche. Er hörte den Fernseher im Wohnzimmer und fragte, ob Sæmundur zu Hause sei. Gagga sagte, er sähe sich irgendetwas im Fernsehen an. Auf ihre Frage, ob er ihn nicht begrüßen wolle, schüttelte Sigurður Óli den Kopf. Seine Mutter hatte Kaffee gekocht, aber er bat um eine Orangenlimonade. Sie hatte meist ein paar Flaschen da, für den Fall, dass er sich blicken ließ.
»Du hast neulich über die Banken gesprochen. Du kennst dich da doch ganz gut aus, oder?«, fragte Sigurður Óli.
»Was willst du wissen?«
»Wieso haben die auf einmal so viel Geld? Woher kommt das Geld? Welche Machenschaften könnten irgendwelche Banker ausklügeln, die nicht ans Licht kommen dürfen? Kennst du dich mit so etwas aus?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Gagga. »Man hört seit einiger Zeit so das ein oder andere. Einige behaupten, dass es auf eine Katastrophe zusteuert, wenn es so weitergeht. Dieses unglaubliche Wachstum im isländischen Wirtschaftsleben beruht ja zum allergrößten Teil auf ausländischen Geldanleihen, und jetzt deutet einigesdarauf hin, dass diese Quellen langsam versiegen. Sollte es tatsächlich zu einer ernsten Finanzkrise auf der Welt kommen, und davon ist durchaus bereits die Rede gewesen, dann wird es unsere Banken hart treffen. Die eigentliche Gefahr besteht wohl darin, dass sie hierzulande das Tempo immer noch mehr anheizen, statt es zu drosseln und vorsichtiger zu agieren. Erst gestern habe ich gehört, dass sie an mehr Devisen herankommen wollen, indem sie Depositkonten in anderen europäischen Ländern eröffnen wollen. Es gibt da irgendwelche Pläne, soweit ich weiß. Hast du jetzt etwa die Banken im Visier?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sigurður Óli. »Möglicherweise Leute, die bei diesen Banken arbeiten.«
»Isländische Kapitalbesitzer haben über ihre Firmen große Anteile an den Banken gekauft, und deswegen genießen sie Sonderrechte im Hinblick auf Konditionen für Kredite. Wenn so etwas bestimmte Größenordnungen erreicht, ist das nicht nur moralisch fragwürdig, sondern auch gefährlich. Sie benutzen die Banken, die ja öffentliche Aktiengesellschaften sind, zu ihren eigenen Zwecken. Sie teilen die größten Unternehmen hierzulande unter sich auf, und im Ausland kaufen sie alles, was ihnen unter die Finger kommt. Das Ganze wird durch Billigkredite angeheizt. Um den Wert der Gesellschaften zu steigern, inszenieren sie alle möglichen akrobatischen Transaktionen. Hinter solchen Wertsteigerungen steckt meist traurig wenig Kapital. Sie reißen sich das Geld der normalen Aktionäre unter den Nagel, indem sie ihnen die eigenen Anteile zu völlig überhöhten Preisen verkaufen. Die oberen Etagen in den Banken schanzen sich selber Optionsverträge für Hunderte von Millionen oder sogar Milliarden zu und nehmen in derselben Bank Kredite auf, die wiederum mit ihren Bankaktien abgesichert sind. Sie gehen überhaupt kein Risiko ein.«
»Ja, so etwas hört man ständig.«
»Auf diese Weise lassen sie sich für die Zusammenarbeit mit den Eignern bezahlen«, fuhr Gagga fort. »Und dann gibt es da noch diese ganzen Fälle von Cross ownership, wo die Eigentumsverhältnisse in Firmen sozusagen kreuz und quer mit anderen Firmen verquickt sind, alle haben Anteile bei allen. Es sind immer wieder dieselben Leute, die solche Geschäfte machen, die Kredite gewähren und aufnehmen. Gefährlich ist das vor allem deshalb, weil das ganze Kartenhaus zusammenstürzen wird, wenn auch nur ein Glied in der Kette bricht.«
Sigurður Óli sah seine Mutter
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