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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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geantwortet.
    »Es reicht«, hatte seine Mutter gesagt. »Und weshalb nimmst du das eigentlich alles auf?«
    »Halt die Klappe«, war die Antwort gewesen.
    Er drohte ihr auch, und manchmal schlug er sie.
    Und dann war Rögnvaldur eines Tages verschwunden. Das Vorführgerät, die Filme, die Kamera, seine Klamotten, die Schuhe und die Stiefel und sein Rasierzeug im Badezimmer, seine Mützen, Jacken – all das war weg, als er eines Morgens aufwachte. Rögnvaldur war manchmal für kurze Zeit weggefahren, aber dann hatte er seine Sachen immer dagelassen. Diesmal sah es ganz so aus, als hätte er nicht vor, zurückzukommen. Er war weg, und mit ihm sein gesamter Besitz.
    Ein Tag verging. Zwei Tage. Drei Tage. Von Rögnvaldur keine Spur. Fünf Tage. Zehn Tage. Zwei Wochen, kein Rögnvaldur ließ sich blicken. Er wachte nachts auf, weil es ihm so vorkam, als hätte er ihn angestoßen. Aber da war kein Rögnvaldur. Drei Wochen. Er versuchte, seine Mutter auszufragen.
    »Kommt er zurück?«
    Ihre Antwort war immer dieselbe: »Als würde ich das wissen!«
    Ein Monat.
    Ein Jahr.
    Zu dem Zeitpunkt hatte er bereits angefangen, seine Qual zu betäuben. Er war überrascht, wie gut es tat, Klebstoff zu schnüffeln.
    Er setzte alles daran, den Zugang zu den Kammern zu verschließen, wo das Blut an den Wänden herunterlief.
    Und Rögnvaldur kehrte nicht zurück.
    Er blickte zum grauen, düsteren Himmel hinauf.
    Er fühlte sich seltsam wohl auf dem Friedhof. Er lehnte mit dem Rücken gegen einen alten, bemoosten Grabstein. Ihm war kalt, aber das machte ihm nichts aus. Er hatte das Gefühl, ein wenig geschlafen zu haben. Die Abenddämmerung senkte sich über die Stadt, und das Rauschen des Verkehrs drang über die Kirchhofmauer und durch die großen Bäume über längst vergessenen Gräbern bis zu ihm vor. Er war zu allen Seiten vom Frieden des Todes umgeben.
    Hier stand die Zeit still.
    Hier hatte sie nichts verloren.

Einundvierzig
    Sigurður Óli wusste nicht, wie viel Bedeutung Andrés oder dem, was er bei ihrem letzten Gespräch gesagt hatte, beizumessen war. Das Gespräch war verworren gewesen. Andrés schien ihm mitteilen zu wollen, dass er Rögnvaldur in seine Gewalt bekommen hatte, und er hatte eine Maske erwähnt, was zu den Lederstücken passte, die Sigurður Óli bei ihm in der Küche gefunden hatte. Andrés rief ihn an, um ihm diese Informationen zu übermitteln, aber sein Zögern deutete darauf hin, dass er selber nicht wusste, was er als Nächstes tun wollte, was er überhaupt damit bezweckte. In seiner Wohnung hatte er sich allem Anschein nach seit Längerem nicht aufgehalten. Sigurður Óli versuchte herauszufinden, wer dieser Rögnvaldur war, der immer wieder in den Gesprächen mit Andrés auftauchte, und wo er wohnte. Es gab im Hauptstadtbereich nur wenige Männer dieses Namens und des entsprechenden Alters, und keiner von ihnen wurde vermisst. Andrés’ Stiefvater war schon früher unter falscher Flagge gesegelt, hatte andere Namen verwendet. Das konnte immer noch der Fall sein, was die Suche nach ihm erschwerte. War es wirklich denkbar, dass Andrés ihn angegriffen hatte, oder handelte es sich um Wahnvorstellungen eines Mannes, der übermäßig Alkohol konsumierte?Konnte man das, was eine gesellschaftliche Randexistenz, ein Penner, sagte, tatsächlich ernst nehmen?
    Diese Fragen und andere gingen Sigurður Óli durch den Kopf, als er nach dem Abendessen mit Bergþóra zu seiner Mutter fuhr. Trotz allem hatte er das Gefühl, dass man Andrés ernst nehmen musste. Dass er nie über diese albtraumartigen Erlebnisse seiner Kindheit hinweggekommen war. Dass er dringend Hilfe brauchte. Und dass er selber darum bat, auch wenn er es in seltsamer Weise zum Ausdruck brachte. Die kurze Filmsequenz und ihre Begegnung auf dem Friedhof genügten Sigurður Óli, um dem, was Andrés sagte, Glauben zu schenken. Andrés ließ ihm einfach keine Ruhe, er musste dauernd an ihn denken, und dazu bedurfte es nur eines geringfügigen Anlasses, es konnte irgendetwas sein, was er sah oder hörte. Was hatte Andrés über seine Mutter gesagt? Frag mich nicht nach ihr, ich will nicht über sie reden. Was hatte Bergþóra über ihn selber gesagt? Du bist ihr manchmal so unglaublich ähnlich. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, hatte Bergþóra schließlich die Entscheidung getroffen, einen Schlussstrich unter ihre Beziehung zu setzen. Für sie war es aus, jeder würde seinen Weg gehen. Im Grunde genommen wusste er überhaupt nicht, wie er mit

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