Abgründig (German Edition)
bist, aber ich will dir doch nur helfen.«
»Nein, verdammt, verpiss dich!«, brüllte Sebastian ihn mit hochrotem Kopf an. »Wenn du noch einen Schritt näher kommst, mach ich dich alle. Trotz kaputter Schulter.«
Tim hoffte, Ralf würde es aufgeben und Sebastian in Ruhe lassen. Er wagte es aber nicht, sich einzumischen. Sebastian schien so aggressiv, dass der kleinste Anlass ihn explodieren lassen würde. Und Tim hatte keine Lust, ihm den zu geben.
»Darf ich mal nachsehen?«, fragte da Julia und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, an Ralf vorbei zu Sebastian.
Tim war nicht der Einzige, der den Atem anhielt und gebannt darauf wartete, wie Sebastian reagieren würde. Als der seinen Blick von Ralf losriss und Julia ansah, entspannten sich seine Züge.
»Ja, darfst du«, sagte er mit überraschend ruhiger Stimme. »Aber pass auf, das tut echt tierisch weh.«
Julia wartete, bis Sebastian den Reißverschluss geöffnet und seine Jacke vorsichtig ausgezogen hatte. Dann schob sie mit spitzen Fingern das Shirt über seiner Schulter zurück und sagte: »Autsch«, nachdem sie die Haut darunter betrachtet hatte.
»Was ist?«, fragte Sebastian alarmiert und versuchte, das Kinn so fest an seine Brust zu drücken, dass er die Stelle sehen konnte, was ihm aber nicht gelang. »Nun sag schon …«
»Das verfärbt sich«, erklärte Julia und legte vorsichtig ihre Hand auf die Stelle. »Wird sicher ein riesiger Bluterguss.«
Sebastian sog die Luft zwischen den Zähnen ein und kniff den Mund zusammen. »Au, verdammt, was machst du?«
»Nachsehen, ob was ausgerenkt ist.«
»Denkst du, du kannst das fühlen?«
»Vielleicht schon. Ich mache eine Ausbildung zur Masseurin, da hab ich oft mit so was zu tun.«
Noch während Tim sich fragte, wie man mit zentimeterlangen Fingernägeln massieren konnte, sagte Sebastian: »Wie geht das denn, mit den Nägeln? Damit würde ich mich nicht von dir massieren lassen.«
»Die sind künstlich. Hab ich mir gerade frisch machen lassen, extra für den Urlaub. Wenn ich arbeite, müssen die ganz kurz sein.«
»Künstliche Fingernägel für ein Klettercamp hat was von künstlicher Intelligenz«, bemerkte Janik und sah grinsend von einem zum anderen.
»Sehr witzig«, sagte Sebastian an Julia vorbei, die noch immer an seiner Schulter herumtastete und Janiks Bemerkung entweder nicht gehört hatte oder sie einfach überging. »Kannst du sonst noch was, außer blöde Sprüche reißen?«
Ralf schlug die Hände zusammen und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. »Ich schlage vor, wir schauen uns jetzt um. Vielleicht gibt es hier ja irgendwas, das wir brauchen können.«
Tim fand, das war eine gute Idee, denn sie lenkte alle ein bisschen ab und entschärfte die gereizte Stimmung.
Draußen wütete das Unwetter mit unveränderter Kraft, warf sich immer wieder gegen die Außenwände und ließ sie erzittern.
Die Hütte bestand aus zwei Räumen. Neben dem großen, in den sie sich gerettet hatten, gab es noch eine kleine fensterlose Kammer, in der es beißend stank. Die Tür stand etwa zur Hälfte offen und hing schief in den Angeln. Sie ließ sich keinen Zentimeter bewegen. Der Boden war mit Mäuse- oder Rattenkot übersät und das ganze Inventar bestand aus einem schiefen, zugestaubten Holzregal und zwei Holzkisten. Auf den Regalen fanden sie einen fast vollen Karton mit dicken Kerzen in roter Plastikummantelung, wie man sie häufig auf Friedhöfen sieht. In einer der Kisten lag allerlei angerostetes Werkzeug herum, die andere jedoch war bis zum Rand vollgestopft mit Decken. Sie waren aus grobem Material und sahen nicht sehr einladend aus. Tim wollte nicht darüber nachdenken, wann sie zum letzten Mal gewaschen worden waren, aber sie froren alle in ihren durchnässten Sachen, und mit diesen Decken konnten sie sich wenigstens ein bisschen aufwärmen. Vielleicht war es sogar möglich, die nasse Kleidung wenigstens für eine Weile auszuziehen, damit die Haut Gelegenheit hatte, wieder zu trocknen.
Gemeinsam mit Ralf und Fabian schaffte Tim Kerzen und Decken in den großen Raum und legte alles auf dem Tisch ab.
Zwischenzeitlich hatten die anderen den großen Schrank durchsucht, dort aber kaum etwas Nützliches gefunden. Nur eine Schachtel Streichhölzer, ein paar kleinere Kerzen …
Nach etwa zehn Minuten war das geschäftige Treiben vorbei. Alles war durchsucht, es gab nichts mehr zu entdecken. Denis hatte während der ganzen Zeit in der Ecke neben der Tür auf dem Boden gehockt und ihnen mit
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