Abgründig (German Edition)
Also … Kiste.«
Fabian wandte sich ab und machte den nächsten Schritt auf die Durchgangstür zu. Mit einer Geschwindigkeit, die Tim ihm nicht zugetraut hätte – schon gar nicht nach dem ganzen Wodka –, sprang Ralf auf und war mit ein paar Schritten bei Fabian. Er packte ihn grob am Arm und riss ihn herum. Sein Gesicht hatte sich dunkelrot verfärbt. »Ich sagte, du gehst raus, kapiert?«
Fabian sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. »He, du tust mir weh. Hör auf.« Er versuchte, sich aus Ralfs Griff zu befreien, doch der hielt ihn eisern fest. Tim sah, dass Fabians Mundwinkel zuckten und Tränen in seine Augen schossen.
Ralf ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken, er schien wie von Sinnen. »Du gehst jetzt da raus!«, brüllte er Fabian an und packte wohl noch fester zu, denn Fabian verzog das Gesicht und krümmte sich jammernd.
Tim spürte, wie eine heiße Welle durch seinen Körper und dann in seine Stirn schoss, wo sie augenblicklich ein heftiges Prickeln verursachte. Ohne nachzudenken sprang er auf und rief: »Lass ihn sofort in Ruhe!« Als Ralf nicht reagierte, stieß Tim ihn mit beiden Händen mit solcher Wucht vor die Brust, dass er zurücktaumelte und Fabian dabei losließ.
»Was verdammt noch mal stimmt nicht mit dir?«, schrie Tim Ralf an. Im hintersten Winkel seines Bewusstseins begriff er, dass er gerade vollkommen die Beherrschung verlor, aber es war zu spät. »Von jedem lässt du dir alles Mögliche an den Kopf schmeißen – lässt es dir gefallen, weil du Schiss hast. Du hast Schiss vor Sebastian, vor Denis, vor Janik. Aber auf den Jüngsten und Schwächsten von uns gehst du los, der bisher alles klaglos mitgemacht hat, was du verbockt hast. Du bist nicht nur ein Angeber und Lügner, sondern auch ein elender Feigling! Komm her, wenn du dich prügeln möchtest. Na los!«
Hände legten sich von hinten sanft, aber doch bestimmt um Tims Oberarme und zogen ihn langsam zurück. Als er sich mit einem Ruck umdrehte, blickte er in Lenas ernstes Gesicht.
»Tim«, sagte sie eindringlich. »Hör auf, das ist nicht gut.«
»Ach, ich habe einfach die Nase voll. Wenn ich eines hasse, dann sind es Typen, die bei jedem Geräusch den Schwanz einziehen und dann einen auf dicke Hose machen, wenn sie ganz sicher sind, einen Schwächeren vor sich zu haben.«
Er wandte sich wieder Ralf zu, um nochmals klarzumachen, dass er gemeint war. Aber seine größte Wut war schon wieder verraucht. Fabian hatte sich gegen die Tischkante gelehnt und rieb sich den Oberarm.
»Alles okay?«, fragte Tim, und Fabian nickte.
»Ja, geht schon. Jetzt muss ich nicht mehr.«
»Lustiger Abend«, kommentierte Denis das Geschehen und widmete sich der Flasche. Ralf ging zu seinem Platz und setzte sich. Dabei sah er mit steinerner Miene konsequent an Tim vorbei.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du so böse werden kannst«, sagte Lena, als auch Tim und sie wieder auf ihren Plätzen saßen und die Decke über ihre Schultern legten. »Hat das was mit dem Alkohol zu tun?«
»Quatsch«, sagte Tim und wusste doch, dass Lena zumindest zum Teil recht hatte. Er trank selten, schon gar keinen Schnaps, aber wenn, dann wirkte er bei ihm als extremer Stimmungsverstärker. Wenn er gute Laune hatte, wurde er extrem albern und lustig. Dann konnte er über jedes krumme Stück Holz lachen. Hatte er allerdings schlechte Laune oder beschäftigte sich mit ernsthaften Problemen, konnte es passieren, dass er ausrastete, wenn er sich oder andere ungerecht behandelt sah. So wie eben.
»Jetzt wieder besser?«
»Ja. Er soll Fabian nur nicht mehr anpacken, sonst kann er was erleben.« Die Wodkaflasche erreichte Tim. Er griff sie und setzte sie ohne Zögern an. Er redete sich ein, dafür sorgen zu müssen, dass die wärmende Wirkung des Alkohols nicht nachließ. Insgeheim wollte er sich vielleicht nur beweisen, dass nicht der Alkohol, sondern sein Gerechtigkeitssinn an seinem kleinen Ausbruch Schuld gehabt hatte.
Sie sprachen nicht mehr über den Zwischenfall. Selbst von Denis kamen keine Kommentare mehr. Einmal steckten er und Janik die Köpfe zusammen, sie schienen sich sogar zu unterhalten.
Nacheinander mussten alle mal nach draußen gehen, und nachdem die Kerzen dabei immer wieder ausgeblasen wurden, entwickelten sie ein Verfahren, um das zu verhindern. Wenn jemand die Hütte verließ, ging sein Nachbar mit bis zur Tür und hielt die Decke ausgebreitet vor sich, während die Tür einen Spalt weit geöffnet wurde. Das hielt den Wind
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