Abgrund der Lust
selbst nach, Gabriel?«
»Vermisst du mich, mon frère ?«, erwiderte Gabriel spöttisch.
»Ja.«
Für einen flüchtigen Augenblick ließ Michael seine Maske fallen. Nichts Trügerisches lag in seinen Augen, nichts Gekünsteltes in seiner Stimme.
Eine unsichtbare Faust ballte sich in Gabriels Magengrube.
Michael liebte ihn, und Gabriel wusste nicht, wieso.
Michael hatte Gabriel nie verurteilt, weil er ein namenloser Bastard war oder die Entscheidungen getroffen hatte, die er getroffen hatte.
Gabriel wünschte, er hätte ihn beschimpft und verurteilt.
Gabriel wünschte, er könnte hassen und sicher sein, dass er Hass empfand, nicht verkappte Angst.
Er wich Michaels Augen aus. Sie hatten sich in den siebenundzwanzig Jahren, die Gabriel ihn kannte, nicht verändert: Sie waren immer noch unverhohlen hungrig.
Victorias Augen waren ebenfalls hungrig. Unschuldige blaueAugen, die nach Sinnlichkeit hungerten. Nach Liebe. Nach Anerkennung.
Der zweite Mann hatte Victoria zu ihm gebracht, weil sie hungrig war. Genau wie Michael hungrig war.
Weil sie begehrte. Wie Gabriel nicht zu begehren vermochte. Aber warum?
»Du hast mich Lesen und Schreiben gelehrt«, sagte Gabriel. Er wollte die Beweggründe des zweiten Mannes verstehen. Er wollte Michaels Beweggründe verstehen. »Warum?«
»Du hast mich Stehlen gelehrt: Ich fand es einen gerechten Tausch.« Schärfe lag in Michaels Ton. »Wer ist der zweite Mann, Gabriel?«
Gabriel sah Michael unerschrocken in die Augen.
»Du weißt, wer er ist«, antwortete er ungerührt.
Michael hatte Gabriel in einer Mansarde angekettet gefunden wie einen Hund, als er in seinem eigenen Dreck um den Tod betete. Aber Michael hatte ihn nicht sterben lassen. Gabriel wünschte, er hätte es getan.
»Du hast mir erzählt, dass er der zweite Mann war, der dich vergewaltigt hat«, sagte Michael.
Zwei Männer hatten Gabriel vergewaltigt; einen hatte er getötet, der zweite Mann lebte immer noch.
Gabriel schlug die Augen nicht vor dem Misstrauen nieder, das in Michaels Blick schwelte. »Ich habe gesagt, dass ein zweiter Mann da war«, bestätigte er ruhig.
»Aber bis vor sechs Monaten hast du nie einen zweiten Mann erwähnt.«
»Ich wusste nicht, dass du dich für Einzelheiten interessierst. Verzeih mir, mon vieux «, sagte Gabriel seidig, um Michael bewusst zu ärgern. »Ich dachte, deine Interessen lägen anderswo.« Bei Frauen statt bei Männern, meinte er. Michael biss nicht an.
»Ich dachte, du wärst der einzige Mensch in meinem Leben, den meine Vergangenheit nicht zerstört hätte, Gabriel.« Schwarze Wimpern verhüllten Michaels Augen. Er stellte die Schale mit der Schokolade auf das Silbertablett.
Schmerz durchzuckte Gabriel. Michael würde sich unweigerlichirgendwann die Teile zusammenreimen. Und Gabriel wünschte, er könnte ihm auch das ersparen. Das sanfte Klirren von Glas an Metall übertönte das Hämmern seines Herzens.
Langsam schaute Michael auf, violettblaue Augen nagelten silberne fest. »Aber ich habe mich geirrt, nicht wahr, mon frère ?«
»Keiner von uns entrinnt der Vergangenheit, Michael«, sagte Gabriel wahrheitsgemäß.
Und wartete. In dem Wissen, dass er nichts tun konnte, um den weiteren Verlauf der Dinge aufzuhalten. Michael rutschte lautlos vom Schreibtisch. Seine Augen waren entschlossen, die Narben auf seiner Wange weiß vor Anspannung. Er trat einen Schritt vor …
»Warum hat die Frau ihren Körper in deinem Haus versteigert, Gabriel?«
Zwei Schritte …
»Warum verkauft jemand seinen Körper, Michael?«, fragte Gabriel ironisch. Sein Herz schlug schneller.
Er fragte sich, wie weit Michael Gabriel in seiner Suche nach der Wahrheit treiben würde. Er fragte sich, wie weit der zweite Mann ihn in seinem Spiel mit dem Tod treiben würde.
Er fragte sich, was er tun würde, wenn Victoria versuchen sollte, ihn zu verführen.
Drei Schritte …
»Du hast bisher nie Auktionen zugelassen, mon ami «, forderte Michael ihn heraus.
Vier Schritte …
»Heute Abend ist die große Wiedereröffnung meines Hauses«, antwortete Gabriel ruhig. Er wählte Wahrheit und Lügen mit gleicher Sorgfalt aus. »Ich fand es passend.«
Fünf Schritte …
Michael hob ironisch eine Augenbraue. »Und fandest du es auch passend, dass der Eigentümer seine Gäste überbot, Gabriel?«
Sechs Schritte …
»Vielleicht bin ich einsam, Michael«, sagte er leise. »Vielleicht möchte ich eine Frau für mich.« Gabriel wusste nicht, ob er log oder nicht.
Sieben
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