Abgrund der Lust
nun die Wahrheit in Gabriels Blick las. Die Liebe. Den Hass.
»Vor sechs Monaten habe ich es nicht verstanden, Gabriel. Aber du und Anne habt mir die Wahrheit klar gemacht. Ihr liebt mich und habt wegen dieser Liebe gelitten. Mit dieser Liebe habt ihr mich beschützt. Ich bin sicher, mein Onkel hat sich über eure edle Einstellung und meine Ahnungslosigkeit maßlos gefreut.« Ironie färbte kurz Michaels Stimme, verschwand aber sofort. »Genau wie ich sicher bin, dass es ihm großes Vergnügen gemacht hat, für den Fall seines Todes Vorkehrungen für deinen Tod zu treffen. Aus keinem anderen Grund, als mich leiden zu machen. Und ich versichere dir, Gabriel, ich würde leiden, wenn du sterben solltest.«
»Du glaubst also, dass dein Onkel dem zweiten Mann Anweisung hinterlassen hat, mich zu töten, falls er selbst getötet würde« – Gabriel presste die Worte um den geballten Schokoladenatem herum, der in seiner Kehle steckte –, »um dir wehzutun?«
»Genau das hat er getan, Gabriel«, sagte Michael unerschütterlich.
»Wenn das der Fall wäre, Michael, dann würde ich an deiner Stelle Anne nicht ohne Schutz lassen. Ihr Tod würde dir viel mehr Kummer bereiten als meiner.« Das Bild des Earl tauchte vor Gabriels innerem Auge auf. »Und ich versichere dir, dieser Tatsache war sich dein Onkel durchaus bewusst.«
Zweifel flackerten in Michaels Blick auf, verschwanden. »Anne ist nicht allein. Ich habe zusätzlich zu den Männern, die du postiert hast, Wachen aufgestellt, die auf sie aufpassen.«
Gabriels Männer waren professionell: professionelle Huren, professionelle Diebe, professionelle Mörder. Sie hätten ihre Anwesenheit besser kaschieren müssen.
»Wachen kann man bestechen«, sagte Gabriel.
»Du wirst nicht zulassen, dass Anne etwas zustößt.« Michael sprach mit leiser Sicherheit. Drei Stunden zuvor hatte Gabriel noch dieselbe Sicherheit besessen. Aber das war vor drei Stunden. Er hatte gedacht, der zweite Mann würde einen dunkelhaarigen Engel töten, aber er hatte es nicht getan. Stattdessen hatte er einem blonden Engel eine Frau geschickt. Eine Hauptdarstellerin,die weder Waffen, noch Wissen oder Bosheit besaß. Und Gabriel wusste nicht, warum.
»Vielleicht kann ich ihn nicht aufhalten?«, sagte Gabriel wahrheitsgemäß.
»Und die Frau kann es?«, fragte Michael hellwach.
»Ich weiß es nicht.«
»Was willst du mit ihr machen?«
Was wollte Gabriel mit einer Frau machen, die ihn begehrte – einer Frau, die ihn akzeptierte? Einer Frau, die er begehrte?
»Ich weiß es nicht.«
»Wirst du sie vögeln?«
Wie möchten Sie genommen werden, Mademoiselle?
Ich möchte mit Respekt genommen werden … weil ich eine Frau bin.
Das Pulsieren wanderte Gabriels Arm hinauf und nistete sich in seiner Brust, seinen Lenden, seinem Geschlecht ein.
»Aber du wirst sie töten, Gabriel?«, beharrte Michael.
Das Pulsieren wurde stärker, bis Gabriel nicht mehr wusste, wo es aufhörte oder wo es angefangen hatte. Mit einem dreizehnjährigen Jungen oder mit einer vierunddreißigjährigen Frau.
»Was wäre dir lieber, Michael?«, fragte Gabriel gespannt. »Dass ich sie vögele oder dass ich sie töte?«
Michaels Pupillen weiteten sich, bis Gabriel in seinen Augen einen violett umrandeten Hof aus silbernem Haar sah. »Vor sechs Monaten wolltest du mir helfen.«
»Ich habe getan, was ich konnte.«
Eine weitere in Wahrheit gehüllte Lüge. Gabriel hätte den ersten Mann sofort töten sollen, statt sein Spiel mitzuspielen.
»Lass mich die Frau mitnehmen.«
Vor sechs Monaten hatte Gabriel angeboten, Michaels Frau mitzunehmen. Um sie vor dem ersten Mann zu retten. Die Geschichte wiederholte sich.
»Das kann ich nicht, mon vieux .« In Gabriels Stimme lag kein Bedauern, so wenig wie vor sechs Monaten in Michaels Stimme, als er Gabriels Angebot abgelehnt hatte. »Sie wurde zu mir geschickt, nicht zu dir.«
Eine Frau für einen unberührbaren Engel.
»Du hast dieses Spiel schon einmal erlebt …«
»Glaubst du, dein Onkel hat arrangiert, mir eine Frau zu schicken, um mich in den Tod zu locken?«, spottete Gabriel.
Möglich war es. Der erste Mann könnte dafür gesorgt haben, dass Victoria aus ihrer Stellung entlassen wurde. Er hatte jeden Menschen getötet, den Michael je geliebt hatte. Ein weiteres Leben zu zerstören würde einem Toten nichts ausmachen.
»Ich glaube, du bist viel verletzlicher, als du wahrhaben willst.« Feuer funkelte in Michaels Augen. »Ja, ich glaube, dass mein Onkel das
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