Abgrund der Lust
funkelte auf der gezähnten Schneide. Eine Schneide, die zu keinem anderen Zweck diente als zu töten.
Gekonnt balancierte er den Elfenbeingriff auf seiner Handfläche. »Sehen Sie, Mademoiselle.« Silber funkelte zwischen langen, dunklen Wimpern hindurch. »Ich lasse Ihnen keine Wahl.«
Langsam schlug er die Wimpern hoch, dass seine Augen ungehindert funkelten. »Wenn Sie mich nicht töten, töte ich Sie.«
Victoria schaute auf den Revolver, der halb in dem Stapel gestärkter Hemden vergraben war. Sie starrte auf das Messer, das er lässig in der Linken hielt.
Der Wunsch zu leben rang mit dem Wunsch zu überleben.
Sie atmete tief durch und schaute ihm in die Augen. »In diesem Fall würde ich es vorziehen, wenn Sie mich erschießen, Sir. Ich glaube, es wäre weniger schmerzhaft als mit einem Messer getötet zu werden. Es sei denn natürlich, Sie hätten die Absicht, mir Schmerzen zuzufügen.«
»Das ist kein Spiel.«
Victorias Herz stockte, raste schneller. »Es ist sicher keines, mit dem ich vertraut wäre.«
»Sie glauben nicht, dass ich Sie töten werde«, sagte Gabriel ausdruckslos mit undurchschaubarer Miene.
»Im Gegenteil, Sir.« Victorias Herz konnte unmöglich weiterso rasen – sie würde an einem Herzanfall sterben. »Sie waren so großzügig, mir zu raten, welche Waffe in den Händen einer Frau die wirkungsvollste wäre. Ich wollte lediglich meine Präferenz zum Ausdruck bringen, welche Waffe ich gegen mich verwendet wissen möchte.«
»Haben Sie Angst zu sterben, Mademoiselle?«
Ja.
»Ich habe in den letzten sechs Monaten mit dem Gedanken an den Tod gelebt«, sagte Victoria mit einer Ruhe, die sie keineswegs empfand. »Ich bin es leid, Angst zu haben.«
»Aber Sie haben Angst.«
»Angst ist eine natürliche Reaktion auf das Unbekannte.« Die gezähnte Klinge glitzerte hungrig. »Ich bin noch nie gestorben.«
Den kleinen Tod.
Den endgültigen Tod.
»Begierde ist ebenfalls natürlich, Mademoiselle. Dennoch haben Sie auch davor Angst.«
Wut züngelte durch Victorias Angst. »Ich will nicht das Opfer männlicher Lust werden.«
»Und Sie wollen nicht betteln.«
»Nein.« Sie straffte die Lippen. »Ich werde nicht betteln.«
»Ein Mann kann eine Frau betteln machen, Mademoiselle.«
Um Lust, brauchte er nicht erst zu sagen.
Heißes Blut schoss Victoria in die Wangen.
»Manche Frauen vielleicht.« Trotzig hob sie ihr Kinn. »So bin ich nicht.«
»Wir sind alle so.«
»Männer betteln nicht um fleischliche Erlösung«, sagte Victoria wütend.
Das hatte ihr Vater sie gelehrt. Frauen waren schwach, Männer nicht.
Frauen mussten die Konsequenzen ihrer Begierden tragen, Männer nicht.
»Ich habe um fleischliche Erlösung gebettelt, Mademoiselle.«
Victoria starrte ihn an.
Dunkelheit glitzerte in Gabriels Augen.
Sie erinnerte sich, wie er die Berührung ihrer Hand gemieden hatte, als sie nach der Seidenserviette griff.
Wenn ich Sie nicht ersteigert hätte, Mademoiselle, würden Sie einen weitaus schlimmeren Tod sterben, als Quecksilbersublimat ihn verursacht.
Victoria rang mit der Wahrheit. »Dieser Mann, der mich Ihrer Ansicht nach zum Haus … zu Ihrem Haus gelenkt hat …«
Schweigend wartete Gabriel, bis Victoria den Zusammenhang herstellte.
»… er hat Sie betteln gemacht«, schloss sie.
»Ja«, sagte er unverhohlen.
Wartete, dass Victoria ihn verurteilte.
Vielleicht hätte sie es vor sechs Monaten getan.
»Und Sie glauben, dieser Mann würde … Dinge … tun …, um mich betteln zu machen?«
»Wenn Sie dieses Haus verlassen, ja.«
»Warum?«
Warum sollte ein Mann, von dem sie vor dieser Nacht noch nichts wusste, ihr Leid zufügen wollen?
»Männer töten aus vielen Gründen. Manche Männer töten für Geld. Manche Männer töten aus Sport. Und manche Männer töten nur, weil sie es können, Mademoiselle.«
Das Blut wich aus ihrem Gesicht.
In den letzten sechs Monaten hatte sie erlebt, wie respektable Männer Bettler schlugen, vornehme Damen Straßendirnen beschimpften und Kinder andere Kinder verhöhnten, weil sie zerlumpte Kleider und keine Schuhe hatten. Nur weil sie es konnten.
Victoria nahm sich zusammen. »Sie sagten, er würde mich töten, Sir, nicht zu seinem Vergnügen vergewaltigen.«
»Was er tut, hat mit Lust oder Vergnügen nichts zu tun.« In Gabriels Augen gab es weder Lust noch Vergnügen. Was hatte der Mann ihm angetan? »Am Ende würde er Sie töten.«
»Sie hat er nicht getötet.«
»Das gehörte nicht zu seinem Plan.«
Laissez le jeu
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