Abgrund der Lust
Schuss abzugeben. Er wusste, dass er zu nah am Abgrund war.
Michael war das einzig Gute, was Gabriel je besessen hatte.
Ein weißer Umschlag durchschnitt die Luft und landete neben dem Silbertablett auf der schwarzen Marmorplatte des Schreibtischs.
»Das ist eine Einladung, Gabriel.« Michael drehte sich nicht um. Er wusste um die Gefahr, in der er sich befand. »Anne und ich heiraten.«
Einen Augenblick lang raubte es Gabriel den Atem.
»Und welchen Namen wirst du ihr geben, Michael?«, schlug er zu. »Soll sie Madame des Anges heißen oder Lady Anne Sturges Bourne? Wird sie die Frau einer Hure oder Countess des Earl of Granville?«
Es war zu spät, die verletzenden Worte zurückzunehmen. Michael hatte den Titel nicht in Anspruch genommen, der ihm nach dem Tod seines Onkels rechtmäßig zustand. Er hatte Gabriels Rachsucht nicht verdient.
Die Bemerkung bewirkte, was Gabriel vorher nicht gelungen war: Sie trieb Michael aus Gabriels Arbeitszimmer. Aus Gabriels Haus. Aus Gabriels Leben. Michael würde auch ohne Gabriel überleben, aber konnte Gabriel ohne Michael überleben?
Sein Blick fiel auf die Briefe aus Victorias Tasche. Diese Briefe würden zeigen, ob Victoria gelogen oder die Wahrheit gesagt hatte. Sie würden Gabriel zeigen, was er zu erwarten hatte, wenn er seine Schlafzimmertür öffnete: eine Schauspielerin. Oder eine Mörderin. Eine Frau, die eine männliche Hure lieben würde. Oder eine Frau, die töten würde, um der Armut zu entfliehen.
Sie würden ihm zeigen, ob sie leben oder sterben würde.
Kapitel 6
Victoria wusste nicht, wonach sie suchte, sie wusste nur, dass sie etwas finden musste: Ein Mittel, das ihr zur Flucht verhelfen könnte; eine Waffe, mit der sie sich schützen könnte. Einen Schlüssel, mit dem sie die Schlafzimmertür abschließen könnte.
Gabriel würde sie nicht viel länger allein lassen. Jeder Atemzug, jeder Herzschlag maß die verrinnenden Minuten. Jeder Atemzug, jeder Herzschlag erinnerte sie, dass er sie jeden Augenblick erwischen konnte. Und sie konnte nichts dagegen tun.
Victoria riss die unterste Schublade der Satinholzkommode auf. Mit einem Schlag sträubte sich ihr Nackenhaar.
»Ich kenne dich, Victoria Childers.«
Victoria erstarrte.
» Du willst, wonach jede Frau sich insgeheim sehnt .«
Die Briefe. Er hatte sie gelesen.
»Du willst geküsst und gestreichelt werden.« Victoria wirbelte auf Knien herum, die durch das Wollkleid auf dem gebohnerten Holzboden leicht rutschten. Sie stützte sich mit den Händen auf den Boden, um nicht zu fallen. Ihr Haar schwang zu beiden Seiten ihres Kopfes wie ein Doppelpendel.
Der Mann – Gabriel – stand in der Tür. Seine silbernen Augen funkelten, sein Haar bildete eine silberne Aureole. In seinen Händen blitzte es silbern auf. Sie hatte nicht gehört, wie er die Tür geöffnet hatte. Er machte keinerlei Versuch, den Taschenrevolver – das Metall war silberglänzend statt matt blauschwarz – und das tödlich wirkende Messer in seiner Hand zu verbergen.
Keines von beiden war nach Größe und Form geeignet, sie im Körper einer Frau – oder eines Mannes – zu verstecken.
Victoria starrte auf das Messer. Der Rücken war gezähnt wie eine Säge, die Klinge lang und breit. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Ihr Blick wanderte von dem Messer zu dem Mann.
» Deine Brüste sehnen sich schmerzlich danach, dass ein Mann sie streichelt und an ihnen saugt «, zitierte er mit funkelnden Augen. Sie waren weitaus gefährlicher als eine Messerklinge. » Der ewige Hunger einer Frau «.
Schon geschrieben waren die Worte verführerisch; von dieser seidigen, zärtlichen Stimme gesprochen, wurden sie zum Sprachrohr der Fantasie.
» Ich werde dein vor Verlangen brennendes Fleisch besänftigen «, fuhr er fort. » Ich werde deinen Hunger stillen .«
Victorias Herz stockte. Dieser Mann wirkte, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie schmerzliches Verlangen oder Hunger verspürt.
Wer war der wahre Gabriel?
Der Mann, der sie gefragt hatte, ob sie sich von ihm schweißtriefend umarmen lassen würde, oder der Mann, der mühelos ein tödliches Messer schwang?
» Bald wird dein Leiden ein Ende haben, und du wirst die Wonne kennen lernen, die in den Armen eines Mannes zu finden ist «, zitierte Gabriel weiter. » Du wirst die Wonne kennen lernen, die in meinen Armen zu finden ist, Victoria Childers. Ich werde für dich sorgen, dich trösten, dich erretten aus deiner Armut … Meine allerliebste Gouvernante, du brauchst
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