Abgrund der Lust
mir nur deine Unschuld zu schenken, dann musst du nicht mehr leiden .«
Ihre Erinnerung fügte den fehlenden Halbsatz ein:
Ich werde für dich sorgen, dich trösten, dich erretten aus deiner Armut, ein Übel, dessen Notwendigkeit du sicher einsehen wirst, wenn ich deine Begierden vollauf befriedigt habe. Meine allerliebste Gouvernante, du brauchst mir nur deine Unschuld zu schenken, dann musst du nicht mehr leiden.
»Sie haben ein hervorragendes Gedächtnis, Sir«, sagte sie gleichmütig. Und fragte sich, wann ihre Selbstbeherrschung schwinden würde wie eine Illusion, die sie schließlich war. Eigentlich war es unmöglich, dass ein Mann, der sich so lässig bewegte, so schnell sein konnte.
»Ja, das habe ich, Victoria Childers.« Gabriel stand vor ihr und schaute mit bleichem Gesicht und undurchdringlicher Miene auf sie herab. Er hielt ihr das Messer und den Taschenrevolver hin und fragte sanft: »Haben Sie danach gesucht?«
Er wirkte ruhig: Er war es nicht. Victoria spürte die geballte Kraft, die er ausstrahlte. Es gefiel ihm nicht, dass jemand seine Schubladen durchsuchte: Das konnte sie ihm nicht verübeln. Es gefiel ihm nicht, dass sie fliehen wollte: Das verübelte sie ihm. Würde er sie jetzt töten oder leben lassen? Wie es auch kam, sie würde nicht betteln.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie wahrheitsgemäß.
Er trat neben die offene Schublade. Sie schaute zu ihm auf. Folgte ihm vorsichtig. Ohne zu wissen, womit sie rechnen musste. Ohne zu wissen, wann sie damit rechnen musste. Gabriel ließ Revolver und Messer fallen.
Instinktiv folgte ihr Blick dem fallenden Silber. Die beidenWaffen landeten in der untersten Schublade auf einem Stapel ordentlich gefalteter, gestärkter Hemden. Der dunkle Holzgriff des Revolvers und der Ledergriff des Messers sanken tiefer in den Stapel weißer Hemden ein als der silberne Lauf und die Klinge.
»Sie brauchten mein Schlafzimmer nicht zu durchsuchen, Mademoiselle«, sagte er in jenem täuschend sanften Ton. »Im Badezimmer gibt es ebenfalls Waffen.«
Victoria antwortete nicht.
»Mit genügend Kraft kann zum Beispiel eine Zahnbürste eine Kehle durchbohren.«
Ja, Victoria hatte in den letzten sechs Monaten den Tod in mancherlei Gestalt gesehen.
Sie hob den Kopf und begegnete entschlossen seinem Blick; in ihren Ohren knackte und knisterte das Feuer. »Das hört sich nicht nach einer sonderlich wirkungsvollen Waffe an.«
»Dann empfehle ich Ihnen, den Derringer zu benutzen.« Seide wisperte, Lederstiefel knarrten. Eben noch stand Gabriel dräuend vor Victoria, im nächsten Augenblick ging er in die Hocke, die Beine zu einem einladenden V gespreizt, und legte die Hände leicht auf die Schenkel. »Sie schießt bis zu einer Entfernung von drei Fuß treffsicher. Ein Messer ist sicher schärfer als eine Zahnbürste, aber es erfordert ebenfalls einen gewissen Kraftaufwand. Außerdem beinhaltet es ein größeres Risiko als ein Revolver, zumal für eine Frau. Sie müssen näher an Ihr Opfer heran, um es zu benutzen; wenn der Mann – oder die Frau –, den Sie beseitigen wollen, stärker ist, nimmt er Ihnen das Messer ab und richtet es gegen Sie. Es sei denn, Sie wären geübt im Messerwerfen, was ich bezweifle. Aber die Wahl der Waffe überlasse ich ganz Ihnen.«
Victorias Augen weiteten sich. »Fordern Sie mich auf, Sie zu töten, Sir?«
»Ja.« Er nahm den Taschenrevolver, drehte ihn um und reichte ihn ihr mit dem Griff zuerst. »Nehmen Sie, Mademoiselle.«
Nehmen Sie hallte es über das knisternde Feuer wider.
Sie hatte seine Unterwäsche durchwühlt – dünne Seidensocken, bestickte Seidentaschentücher, feine Wollhosen, weicher als Daunen. Es konnte nicht wahr sein. Ein Mann, der Seidensocken,gestickte Taschentücher und feine Wollunterhosen trug, forderte eine Frau nicht auf, ihn zu töten. Benommen nahm Victoria die Waffe, die er ihr reichte; der harte Holzgriff war warm von seiner Hand. Aus seinem Blick sprach weder Ermutigung noch Entmutigung.
Victoria leckte sich die rauen, rissigen Lippen. »Wenn ich Sie erschieße, nimmt der Kellner draußen mich fest.«
Gabriels Lippen wirkten blütenweich. »Vermutlich.«
Der Revolver fiel aus ihren gefühllosen Händen; gedämpft prallte die Waffe auf die gestärkten Hemden. »Dann werden Sie mir verzeihen, dass ich Ihrer Aufforderung nicht nachkomme.«
Er beugte sich vor, streckte die Hand aus …
Victoria schaute ihm unverwandt in die Augen.
Langsam hob er das Messer auf und hielt es ihr hin.
Licht
Weitere Kostenlose Bücher