Abgrund der Lust
Erinnerte sich an Victorias Schmerz, als sie seine Finger und dann seine Männlichkeit nahm; erinnerte sich an ihre Lust, als sie die Höhepunkte nahm, die er ihr aufzwang, und nach mehr verlangte.
Er wusste, was der Kutscher dachte: Er dachte, Gabriel suche eine männliche Hure. Ungewohnter heißer Zorn durchschoss ihn; er rang ihn nieder. Gedanken töteten nicht; der zweite Mann schon.
»Ich gebe Ihnen jetzt einen Sovereign und den zweiten, wenn die Fahrt vorbei ist«, sagte Gabriel leichthin.
Gier überwog die moralischen Bedenken des Kutschers.
»Steigen Sie ein, Gouverneur.«
Die Mietdroschke stank nach abgestandenem Zigarrenrauch, billigem Gin, altem Parfüm und Schweiß. Gabriel starrte aus dem Fenster. Das Licht der Straßenlaternen kämpfte gegen den Nebel an, gewann auf einer Straße, verlor auf einer anderen. Männer, Frauen und Kinder woben sich durch den Dunst.
Er dachte an Victoria, wie sie allein durch die Straßen ging. Auf der Straße lebte. Allein. Rasch unterdrückte er das Bild. Sie würde nicht auf der Straße leben. Dafür würde Gabriel sorgen.
Vor dem Hundred Guineas Club verstopfte eine Schlange von Mietdroschken die Straße. Gabriel zog eine schwere, silberne Taschenuhr heraus: Es war noch nicht Zeit. Langsam kreiste der Kutscher vier Mal um den Block. Bei der fünften Runde trat eine große, blonde Frau mit blutrotem Samtumhang an den Droschkenstand. Gabriel hob seinen Gehstock mit dem Knauf nach oben und klopfte kräftig drei Mal an das Dach. Die Droschke bog an den Straßenrand. Gabriel rutschte hastig über den Ledersitz, trat die Tür auf und hielt sich so weit vom Fenster zum Gehsteig fern, wie er konnte.
Die Frau zögerte.
Gabriel steckte seinen Gehstock durch die offene Tür, dass der silberne Knauf im gelblichen Nebel leuchtete. Die Frau kam näher, blieb stehen, um dem Kutscher ihre Adresse zu geben. Die Droschke senkte sich, Holz knarrte protestierend, und kurz darauf sank die Frau auf den Sitz, dass das abgenutzte Leder quietschte und Samt raschelte. Eine Hüfte drückte sich gegen Gabriels Hüfte: Er biss die Zähne zusammen. Aufdringliches Parfüm überlagerte den übrigen Gestank.
Die Frau beugte sich vor und zog die Tür zu. Die Dunkelheit, die Gabriel umschloss, hatte nichts mit der zuschlagenden Tür zu tun, aber alles mit der Schulter, die sich plötzlich an seiner rieb.
Es war kein Platz, sich zu rühren, kein Platz, wo ihn nicht die Droschkenwand oder der andere Körper einengte. Die Droschke fuhr mit einem Ruck an. Gabriel wandte den Kopf und starrte den blonden Kopf neben sich an, während jeder Muskel seines Körpers darauf brannte, die Tür aufzutreten, um zu entkommen.
Zurück zu Victoria. Zurück zu der Hoffnung, die sie verhieß.
»Hast du etwas entdeckt?«, fragte er ausdruckslos.
»Ja.«
Es war keine Frauenstimme; es war eine Männerstimme. Selbstekel erfüllte die Droschke. In Gabriels Brust ballte sich eineHand zur Faust. Das hatte er dem Mann neben ihm angetan – er und der zweite Mann.
»Ich habe dir gesagt, dass du es nicht tun musst, John«, sagte Gabriel leise. Er kämpfte gegen das Schwanken der Kutsche und die Angst an, mit der er seit fast fünfzehn Jahren lebte.
»Ich habe heute Nacht nichts getan, was ich nicht früher schon Tausende Male getan hätte«, sagte John tonlos.
Vor zehn Jahren hatte John gehurt, um zu überleben; heute Nacht hatte er es für Gabriel getan. John würde weder Gabriel noch sich selbst je verzeihen. Gabriel konnte es ihm nicht verübeln.
»Sie hätten mich vor zehn Jahren nicht aufzunehmen brauchen.« Johns Haar leuchtete im Licht einer vorbeihuschenden Straßenlaterne golden auf; verlosch sofort im dunklen Nebel. »Ohne Sie wäre ich immer noch da.«
Sie wussten es beide besser. John wäre nicht mehr als Hure im Hundred Guineas Club, er wäre tot.
»Stephen habe ich nicht gesehen«, sagte er stattdessen.
»Sie sollten ihn auch nicht sehen.« John starrte weiter auf die Droschkentür. »Stephen beobachtet den Club, wie Sie angewiesen haben.«
Während Gabriel John angewiesen hatte, die Hure zu spielen.
Langsam wandte John den Kopf; seine Augen leuchteten im Dunklen. »Sie benutzen Frauennamen. Ich konnte mich nicht direkt nach Gerald Fitzjohn erkundigen.«
John sagte Gabriel nichts, was er nicht schon wusste. Aber Gabriel hatte Neuigkeiten für John.
»Fitzjohn ist tot«, sagte Gabriel distanziert. Als ihm Evans und Gastons Entsetzen einfiel, fügte er hinzu: »Er wurde enthauptet.«
John zeigte
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