Abgrund der Lust
»Was willst du von einer Frau, Gabriel?«
Warmer Atem leckte ihre Wange. »Du hast Mitleid mit einem dreizehnjährigen Jungen, der ein Engel sein wollte.«
Es war keine Frage.
Victoria würde nicht lügen. »Ja.«
»Und wenn du mich ansiehst …«, ein schwieliger Finger strich über ihre Unterlippe, »… siehst du das Gesicht eines Engels.«
Victorias Unterlippe zitterte. »Was siehst du, wenn du mich ansiehst, Gabriel?«
Dunkle Wimpern verschleierten Gabriels Augen. Langsam zog er eine Feuerspur über ihr Gesicht; hartes Fleisch umschloss Victorias rechte Wange. »Ich habe dir gesagt, ich heiße nicht Gabriel.«
Victoria befeuchtete ihre Lippen, schmeckte seinen Atem, den Seifenrest an seinem Finger, die Lust, die er ihr geschenkt hatte. »Du sagtest, du hättest dich nach Gabriel benannt, deshalb heißt du auch Gabriel.«
Langsam hoben sich seine Wimpern. »Und du willst mich immer noch berühren.«
Victoria konnte nicht lügen. »Ja.«
»Ich habe geweint, Victoria.«
Tränen stiegen ihr in die Augen; eine einzelne Träne tropfte ausdem harten Fleisch, das sich in ihren Unterleib drängte. »Weinen ist keine Sünde, Gabriel.«
Leben ist keine Sünde.
Lieben ist keine Sünde.
»Nein.« Kaltes, nasses Tuch rieb über Victorias linke Wange; sofort wurde sie gewärmt von heißer, harter Haut. Gabriel schmiegte die Hand an ihre Wange, als sei sie aus kostbarem Glas. »Weinen ist natürlich. Ohne Tränen wird es gefährlich, Victoire .«
Victoire . Die französische Form von Victoria.
Victoria hielt ganz still unter Gabriels Berührung, atmete seinen Atem, sog seinen Duft ein.
»Ich habe einen Mann in den Hundred Guineas Club geschickt«, murmelte er, als ob der Name des Clubs ihr etwas sagen müsste.
Er tat es nicht.
»Was ist der Hundred Guineas Club?«
Heißer Atem streifte sengend ihre Lippen. »Ein Herrenclub.«
»Ein Club, in dem Herren sich treffen.«
London war voller Herrenclubs.
»Es ist ein Club, in dem Männer Frauengestalt annehmen«, erklärte Gabriel und wartete auf ihr Entsetzen. »Manche Männer verkleiden sich als Frauen.«
Victoria hatte die abgetrennten Hände einer Frau in Lederhandschuhen gesehen. Sie weigerte sich, über die Kleiderwahl eines Mannes zu erschrecken. »Warum hast du einen Mann in den Hundred Guineas Club geschickt?«
Gabriel nahm sanft ihr Gesicht in seine Hände. »Ich habe einen Mann hingeschickt, um für mich zu huren.«
Zu huren … für Gabriel?
»Wenn er es nicht gewollt hätte, hätte er es doch nicht tun müssen«, antwortete Victoria unsicher. Ihr Herz pochte in ihrem Körper, außerhalb ihres Körpers.
»Es war ihm verhasst.« Gabriels Atem füllte ihre Nasenlöcher und ihren Mund. »Jetzt hasst er mich.«
Dennoch hatte Gabriel ihn in den Club geschickt, wohl wissend, dass es ihm verhasst war.
Victoria bemühte sich krampfhaft, die Hände an ihren Seiten zu halten und seinen quälend nahen Körper nicht zu berühren.
Es war gefährlich, einen Engel zu berühren.
Gabriel würde gegen die Liebe ankämpfen, nach der er sich sehnte.
»Warum hat er … sich prostituiert … wenn es ihm verhasst war?«
Gabriels Männlichkeit glitt über ihren Bauch. »Er hat es aus Loyalität getan.«
»Du hast ihn gebeten, sich zu prostituieren, obwohl du wusstest, dass er dich dafür hassen würde«, hauchte sie in seinen Mund.
Der Waschlappen war etwas kühler als Gabriels Hand. Rauer. Reibender. »Ja.«
»Warum?«
Warum hatte Gabriel bewusst jemanden in eine Lage gebracht, die ihn erniedrigte? Obwohl er aus eigener Erfahrung wusste, welchen seelischen Schaden es anrichten würde? Gabriels Atem füllte Victorias Lungen; die Kuppe seiner Männlichkeit füllte ihren Bauchnabel. »Der zweite Mann war nicht allein, als er für dich geboten hat.«
Victorias Magen schlug Purzelbäume.
Der zweite Mann tötete jeden, mit dem er in Berührung kam. Wenn er an jenem Abend mit jemandem zusammen war, stammten die Hände in den Handschuhen vielleicht doch nicht von Dolly …
»War der Mann, der bei ihm war, als Frau verkleidet?«
Heißer Atem streifte sengend ihre Lippen; ebenso heißes Fleisch brachte ihren Bauch zum Glühen. Glatte Flüssigkeit tropfte innen an ihrem Schenkel herunter; ein weiteres Rinnsal schlängelte sich über ihren Unterleib. »Nein.«
»Aber er war Mitglied im Hundred Guineas Club.«
Victorias Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen. »Und jetzt ist er tot.«
»Ja«, bestätigte Gabriel ungerührt. Als ob der Tod alltäglich
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