Abgrund: Roman (German Edition)
Meinung ändert. Sie will niemanden auf ihre Seite bringen. Die Initiative zu ergreifen, ist das Vorrecht eines Anführers – doch die Verantwortung dafür möchte sie nicht auf sich nehmen. Das Letzte, was sie sein möchte, ist:
Die Anführerin des Rudels, Len. Die Leitwölfin. Eine verdammte Akela.
Acton ist nun schon seit Monaten tot, doch er lacht immer noch über sie.
Also gut. Scanlon war schlimmstenfalls ein Ärgernis. Und bestenfalls eine unterhaltsame Abwechslung. »Verdammt«, hat Brander einmal gesagt. »Haben Sie draußen mal seine Empfindungen gespürt? Ich möchte wetten, dass nicht einmal die Netzbehörde ihn ernst nimmt.« Das Netz braucht sie, und es wird ihnen nicht den Stecker ziehen, nur weil sich ein paar Rifter mit einem Arschloch wie Scanlon einen Spaß erlaubt haben. Klingt vernünftig.
Dennoch macht Clarke sich Gedanken über die Konsequenzen. In der Vergangenheit ist es ihr nie gelungen, ihnen zu entgehen.
Brander ist endlich mit dem Duschen fertig; seine Stimme dringt aus dem Aufenthaltsraum herüber. Hier unten ist Duschen ein Luxus und eigentlich kaum nötig, wenn man eine sich selbst reinigende, halbdurchlässige Taucherhaut trägt. Es ist ein rein hedonistisches Vergnügen. Clarke nimmt ein Handtuch vom Ablagegestell und steigt die Leiter hoch, bevor ihr jemand zuvorkommt.
»He, Len.« Caraco, die mit Brander am Tisch sitzt, winkt sie zu sich herüber. »Schauen Sie sich das mal an.«
Brander steckt in echten Hemdsärmeln. Er hat nicht einmal die Augenkappen eingesetzt.
Seine Augen sind braun.
»Wow.« Clarke weiß nicht, was sie sagen soll. Seine Augen sehen sehr merkwürdig aus. Ein wenig unbehaglich schaut sie sich um. Lubin blickt vom gegenüberliegenden Sofa aus zu ihnen herüber. »Was sagen Sie dazu, Ken?«
Lubin schüttelt den Kopf. »Warum wollen Sie aussehen wie eine Landratte?«
Brander zuckt die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich wollte meinen Augen einfach mal eine kurze Auszeit gönnen. Außerdem ist Scanlon hier die ganze Zeit über in Hemdsärmeln herumgelaufen.« Als wäre irgendjemand auf den Gedanken gekommen, vor Scanlon seine Augenkappen herauszunehmen.
Caraco schüttelt sich theatralisch. »Bitte! Sagen Sie mir nicht, dass er Ihr neues Vorbild ist.«
»Auch nicht mein altes Vorbild«, erwidert Brander.
Clarke kann sich an den Anblick nicht gewöhnen. »Stört es Sie denn nicht?« – So nackt herumzulaufen?
»Das Einzige, was mich stört, ist, dass ich nicht das Geringste sehen kann. Es sei denn, jemand möchte das Licht hochdrehen …«
»Nun denn.« Caraco nimmt den Faden einer früheren Unterhaltung wieder auf. »Warum genau sind Sie hier heruntergekommen?«
»Weil es hier sicher ist«, sagt Brander und blinzelt in der Dunkelheit, die nur er allein wahrnimmt.
»Aha.«
»Jedenfalls sicherer . Sie sind doch vor Kurzem selbst noch an der Oberfläche gewesen. Ist Ihnen denn nichts aufgefallen?«
»Ich glaube, meine Wahrnehmung der Welt dort oben war ein wenig verzerrt. Deshalb bin ich ja auch hier unten.«
»Ist Ihnen niemals der Gedanke gekommen, dass die Welt, nun ja, ein wenig Kopf steht?«
Caraco zuckt die Achseln. Clarke, die im Geiste nur noch dampfende Wassernadeln vor sich sieht, macht einen Schritt auf den Korridor zu.
»Ich meine, überlegen Sie doch nur mal, wie schnell sich das Netz verändert hat«, sagt Brander. »Es ist noch nicht lange her, dass man von seinem Wohnzimmer aus die ganze Welt bereisen konnte, erinnern Sie sich? Jeder konnte mit jedem Kontakt aufnehmen, solange er wollte.«
Clarke dreht sich wieder zum Aufenthaltsraum um. Sie kann sich noch vage an diese Zeiten erinnern.
»Wie war es damals mit den Viren?«, fragt sie.
»Es gab keine. Oder wenn es sie gab, dann waren sie jedenfalls ziemlich primitiv. Sie konnten sich nicht selbst umschreiben und verschiedenen Betriebssystemen anpassen. Anfangs waren sie höchstens ein wenig lästig.«
»Aber in der Schule hat man uns doch diese Gesetze beigebracht«, sagt Caraco.
Lenie erinnert sich: »Explosive Artenbildung. Brookes’sche Gesetze.«
Brander hebt einen Finger: »›Selbstreplizierende Informationsstränge entwickeln sich im Sinne einer Sigmoid-Differenz-Funktion aus dem Verhältnis zwischen Reproduktionsfehlerrate und Generierungszeit.‹« Zwei Finger. »›Sich entwickelnde Informationsstränge sind anfällig für Parasitismus durch konkurrierende Stränge, deren Sigmoid-Differenz-Funktion eine geringere Wellenlänge besitzt.‹« Drei. »›Stränge, die
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