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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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Scheinwerferlicht des Tintenfischs vor ihnen auf, riesenhaft und schrecklich.
    Die Tiefe grinst sie mit gefletschten Zähnen an.
    Ein Maul öffnet sich, breiter noch als der Lichtstrahl. Es ist über und über mit kegelförmigen Zähnen gespickt, die so groß wie menschliche Hände sind und kein bisschen zerbrechlich aussehen.
    Ballard gibt ein ersticktes Geräusch von sich und taucht in den Schlamm hinab. Der benthische Schlick wirbelt in einer brodelnden Wolke um sie herum auf; sie verschwindet in einem Schwall aus Planktonleichen.
    Lenie Clarke hält inne und wartet, ohne sich zu bewegen. Wie gebannt starrt sie auf das bedrohliche Lächeln. Ihr ganzer Körper fühlt sich elektrisiert an; sie ist sich ihrer selbst noch nie so bewusst gewesen. Ihre Nervenenden geben Impulse ab und scheinen dann zu erstarren. Sie hat schreckliche Angst.
    Doch zugleich scheint sie ihren Körper völlig unter Kontrolle zu haben. Sie denkt noch über diesen Widerspruch nach, als Ballards verlassener Tintenfisch seine Fahrt verlangsamt und nur wenige Meter von den endlosen Zahnreihen entfernt stehen bleibt. Auch der dritte Tintenfisch fährt nun mit seiner Last aus Sensoren an ihr vorbei und hält neben dem anderen inne.
    Das Grinsen im Licht der Scheinwerfer verändert sich nicht.
    Clarke hebt ihre Echolotpistole und drückt auf den Abzug. Wir sind da, stellt sie bei einem Blick auf die Anzeige fest, das ist die Gesteinsformation .
    Sie schwimmt näher heran. Rätselhaft und verführerisch ragt das Lächeln vor ihr auf. Jetzt kann sie an den Zahnwurzeln Teile des Kieferknochens erkennen und sieht Fetzen verfaulten Gewebes vom Zahnfleisch herabhängen.
    Sie dreht sich um und schwimmt zurück. Die Wolke auf dem Meeresboden beginnt sich zu setzen.
    »Ballard«, sagt sie mit ihrer synthetischen Stimme.
    Sie erhält keine Antwort.
    Clarke greift mit der Hand in den Schlamm und tastet blind umher, bis sie auf etwas Warmes und Zitterndes stößt.
    Direkt vor ihr explodiert der Meeresboden.
    Ballard kommt aus dem Untergrund hervorgeschossen und zieht einen Kometenschweif aus Schlamm hinter sich her. Aus der plötzlich aufwallenden Wolke zuckt ihre Hand hervor, die etwas umklammert hält, das im trüben Licht metallisch aufblitzt. Clarke sieht das Messer und weicht im letzten Moment aus; die Klinge gleitet an ihrer Taucherhaut ab und lässt die Nervenenden an ihrem Brustkorb aufflammen. Ballard holt erneut aus. Diesmal gelingt es Clarke, die Messerhand abzufangen, während sie an ihr vorbeizischt, sie zu verdrehen und von sich zu stoßen. Ballard taumelt von ihr weg.
    »Ich bin’s!«, ruft Clarke; der Stimmwandler verleiht ihrer Stimme einen blechernen Klang.
    Mit blinden weißen Augen schwimmt Ballard erneut auf sie zu, das Messer immer noch fest umklammert.
    Clarke hebt die Hände. »Beruhigen Sie sich! Hier ist nichts! Das Ding ist tot!«
    Ballard hält inne. Sie blickt erst Clarke an und schaut dann zu den beiden Tintenfischen hinüber und zu dem Lächeln, das von ihren Scheinwerfern angestrahlt wird. Sie erstarrt.
    »Das ist irgendein Wal«, sagt Clarke. »Er ist schon seit einiger Zeit tot.«
    »Ein … ein Wal?«, sagt Ballard mit rauer Stimme. Sie beginnt zu zittern.
    Das muss Ihnen nicht peinlich sein, hätte Clarke beinahe gesagt, doch sie tut es nicht. Stattdessen streckt sie die Hand aus und berührt Ballard vorsichtig am Arm. Macht man das so?, fragt sie sich.
    Ballard zuckt zurück, als hätte sie sich verbrannt.
    Wohl doch nicht …
    »Ähm, Jeanette …«, setzt Clarke an.
    Ballard hebt eine zitternde Hand und schneidet Clarke das Wort ab. »Mir geht es gut. Ich möchte … Ich glaube, wir sollten in die Station zurückkehren, meinen Sie nicht auch?«
    »In Ordnung«, sagt Clarke. Aber das ist nicht das, was sie wirklich denkt.
    Sie könnte den ganzen Tag lang hier draußen bleiben.

    Ballard ist wieder in der Bibliothek. Als Clarke von hinten an sie herantritt, dreht sie sich um und fährt mit der Hand wie beiläufig über die Helligkeitseinstellung des Bildschirms; die Anzeige wird dunkel, ehe Clarke erkennen kann, worum es sich handelt. Verwirrt betrachtet sie die Datenbrille, die vom Terminal herabhängt. Wenn Ballard nicht wollte, dass Clarke sieht, was sie liest, hätte sie die Brille benutzen können.
    Aber dann würde sie mich nicht kommen sehen …
    »Ich glaube, er gehört zur Familie der Ziphiidae«, sagt Ballard. »Ein Schnabelwal. Allerdings hat er zu viele Zähne. Sie sind sehr selten und tauchen eigentlich nicht

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