Abgrund: Roman (German Edition)
anderen Ärzte waren nicht dieser Meinung.«
»Ach ja? Was haben sie denn gesagt?«
»Sie haben gesagt, ich sei typisch. Angeblich rechtfertigen viele der 151er ihr Verhalten auf dieselbe Weise.«
Scanlon beugte sich vor. »Tja, da haben Sie wohl recht. Es sind immer wieder dieselben Sätze: ›Ich habe sie über ihre erwachende Sexualität aufgeklärt, Doktor.‹ ›Es ist Aufgabe der Eltern, ihren Kindern Dinge beizubringen, Doktor.‹ ›Zur Schule gehen sie ja auch nicht gern, aber es ist nur zu ihrem Besten.‹«
»So etwas habe ich niemals gesagt. Ich habe nicht einmal eigene Kinder.«
»Das ist richtig. Aber Pädophile behaupten häufig, im Interesse der Kinder zu handeln. In ihrer Vorstellung wird sexueller Missbrauch sozusagen zu einem Akt der Nächstenliebe.«
»Was ich getan habe, war kein Missbrauch. So macht man das eben, wenn man jemanden wirklich liebt.«
Scanlon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete Fischer einen Moment lang.
»Das ist das Interessante an Ihnen, Gerry.«
»Was?«
»Diesen Satz habe ich schon öfter gehört. Aber Sie sind der Einzige, der womöglich tatsächlich daran glaubt.«
Am Ende hieß es, sie würden sich um die Anklage kümmern. Er wusste natürlich, dass es damit nicht getan wäre, dass sie ihn im Gegenzug dazu verpflichten würden, sich irgendeinem Experiment zu unterziehen, ein paar seiner Organe zu spenden oder sich freiwillig kastrieren zu lassen. Als sie jedoch endlich Klartext mit ihm sprachen, handelte es sich um etwas ganz anderes. Er konnte es kaum glauben.
Sie boten ihm einen Job an.
»Betrachten Sie es als einen Dienst an der Allgemeinheit«, sagte Scanlon. »Eine Entschädigung der Gesellschaft. Sie würden die meiste Zeit unter Wasser verbringen, aber Sie wären gut ausgerüstet.«
»Wo unter Wasser?«
»An der Channer-Quelle. Etwa vierzig Kilometer nördlich des Axial-Vulkans auf dem Juan-de-Fuca-Meeresrücken. Wissen Sie, wo das ist, Gerry?«
»Wie lange?«
»Mindestens ein Jahr. Sie können anschließend verlängern, wenn Sie wollen.«
Fischer konnte sich zwar nicht vorstellen, warum er das tun sollte, aber das spielte keine Rolle. Wenn er dieses Angebot nicht annahm, würden sie ihm für den Rest seines Lebens einen Regulator in den Kopf einbauen. Obwohl ihm von seinem Leben vermutlich ohnehin nicht mehr viel geblieben war.
»Ein Jahr«, sagte er. »Unter Wasser.«
Scanlon tätschelte ihm den Arm. »Lassen Sie sich Zeit, Gerry. Denken Sie darüber nach. Vor heute Nachmittag müssen Sie sich nicht entscheiden.«
Tu’s, drängte ihn Schatten. Tu’s, oder sie werden an dir herumschnippeln, und du wirst dich verändern.
Aber Fischer wollte sich nicht drängen lassen. »Und was mache ich ein Jahr lang unter Wasser?«
Scanlon zeigte ihm eine Video-Aufzeichnung.
»Himmel«, sagte Fischer. »So etwas kann ich nicht.«
»Kein Problem«, erwiderte Scanlon mit einem Lächeln. »Sie werden es lernen.«
Und das tat er wirklich.
Ein Großteil davon geschah während des Schlafs. Jeden Abend erhielt er eine Injektion, die ihm beim Lernen helfen sollte, wie Scanlon sagte. Danach gab ihm eine Maschine neben seinem Bett bestimmte Träume ein. Er konnte sich nie genau an sie erinnern, aber irgendetwas musste hängen bleiben, denn jeden Morgen saß er mit seiner Tutorin – einem echten Menschen, keinem Programm – an einer Konsole, und all die Texte und Diagramme, die sie ihm zeigte, kamen ihm seltsam vertraut vor. Als würde er das alles schon seit Jahren wissen und hätte es nur vergessen. Jetzt erinnerte er sich wieder: Plattentektonik und Subduktionszonen, Archimedisches Prinzip, die thermische Leitfähigkeit von zweiprozentigem Hydrox, Aldosteron.
Alloplastik.
Er konnte sich daran erinnern, wie sie ihm die linke Lunge herausgenommen hatten, und an die technischen Daten der Geräte, die ihm stattdessen eingesetzt wurden.
Nachmittags beschwerten sie seinen Körper mit Bleigewichten und ließen Niedrigspannung durch seine Muskeln fließen.
Inzwischen begriff er ein wenig von dem, was geschah. Der Vorgang wurde »induzierte Isometrie« genannt, und seine Bedeutung hatte er in einem Traum erfahren.
Eine Woche nach der Operation wachte er mit einem Fieber auf.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte Scanlon. »Das ist nur die letzte Phase der Infektion.«
»Infektion?«
»Damals, als Sie hier angekommen sind, haben wir Ihnen einen Retrovirus gespritzt. Wussten Sie das denn nicht?«
Fischer packte Scanlons Arm. »Ist das etwa eine
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