Abgrund: Roman (German Edition)
scheint nachzulassen. Sie ist sich nicht ganz sicher. So viele Nervenenden haben so lange aufgeschrien, dass selbst der Widerhall noch entsetzlich wehtut. Sie fasst sich an den Kopf und tritt auf der Stelle Wasser, bis sie wieder in die Richtung blickt, aus der sie gekommen ist.
Ihr geheimes Versteck ist explodiert und hat sich in eine Wand aus Schlamm und Schwefelverbindungen verwandelt, die aus dem Meeresboden hervorbrodeln. Clarke wirft einen Blick auf ihren Thermistor: 45°C, und das, obwohl sie einige Meter entfernt ist. Fischskelette, von denen sich gegarte Fleischfetzen ablösen, trudeln in der warmen Strömung umher. Weiter im Innern zischen unsichtbare Geysire.
Der Schwall muss innerhalb von Sekunden durch die Kruste gebrochen sein. Jedem Lebewesen, das von dieser Eruption erwischt wurde, wurde das Fleisch von den Knochen gekocht, ehe auch nur so etwas Komplexes wie ein Fluchtreflex hätte einsetzen können. Ein Schaudern durchläuft Clarkes Körper. Ein weiterer Ausbruch.
Das war Glück. Reines Glück, dass ich weit genug davon entfernt war. Ich könnte jetzt tot sein. Ich könnte tot sein, ich könnte tot sein, ich könnte tot sein …
In ihrer Brust werden ein paar Nervenimpulse ausgelöst, und sie krümmt sich nach vorn. Aber wenn man nicht atmet, kann man auch nicht schluchzen. Man kann nicht weinen, wenn man die Augen nicht schließen kann. Die Reflexe sind alle noch vorhanden und erwachen nach Jahren der Untätigkeit stotternd wieder zum Leben, doch die Maschinerie selbst hat sich verändert. Der Körper erwacht in einer Zwangsjacke.
… tot, tot, tot …
Ein kleiner, beinahe unbekannter Teil von ihr, den sie sich für Gelegenheiten wie diese aufspart, wird nun aktiviert und wundert sich vage über die Heftigkeit ihrer Reaktion. Das war schließlich nicht das erste Mal, dass Lenie Clarke dem Tod ins Auge geblickt hat.
Doch es war das erste Mal seit Jahren, dass es ihr etwas zu bedeuten schien.
Wasserbett
Sich aus dem Taucheranzug zu schälen, ist so, als zöge er sich selbst die Haut ab.
Er kann gar nicht glauben, wie abhängig er inzwischen davon geworden ist, wie schwer es ihm fällt, sein Innerstes nach außen zu kehren. Bei den Augenkappen ist es sogar noch schwieriger. Fischer sitzt auf seiner Pritsche und starrt die geschlossene Luke an, während Schatten ihm zuflüstert: Alles ist gut. Du bist allein, du bist in Sicherheit. Eine halbe Stunde vergeht, ehe er sich dazu durchringen kann, ihr Glauben zu schenken.
Als er schließlich seine Augen entblößt, sind die Lichter in der Kabine so trübe, dass er kaum etwas erkennen kann. Er regelt sie hoch, bis der Raum in Zwielicht getaucht ist. Die Augenkappen ruhen auf seiner Handfläche, im Halbdunkel bleich und undurchsichtig, wie geleeartige kreisrunde Eierschalen. Es ist ein seltsames Gefühl zu blinzeln, ohne die Kappen unter seinen Augenlidern zu spüren. Er fühlt sich so ungeschützt .
Doch er muss es tun. Das ist Teil der Prozedur. Genau darum geht es: sich zu öffnen.
Lenie ist in ihrer Kabine, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Wenn das Schott nicht wäre, könnte Fischer die Hand ausstrecken und sie berühren.
So macht man das, wenn man jemanden wirklich liebt, hatte Schatten damals gesagt. Also macht er es sich jetzt selbst. Für Schatten.
Und denkt dabei an Lenie.
Manchmal hat er das Gefühl, dass Lenie der einzige andere echte Mensch in der ganzen Riftzone ist. Die anderen sind nur Roboter mit gläsernen Roboteraugen und mattschwarzen Roboterkörpern, die Routineprogramme durchlaufen, deren Zweck lediglich darin besteht, noch größere Maschinen am Laufen zu halten. Selbst ihre Namen klingen mechanisch. Nakata. Caraco.
Mit Lenie ist es anders. In ihrer Taucherhaut steckt ein Mensch; ihre Augen sind zwar hinter Glas, doch sie sind nicht gläsern. Sie ist echt. Fischer weiß, dass er sie berühren kann.
Das ist natürlich auch der Grund, warum er immer wieder in Schwierigkeiten gerät. Er versucht ständig, sie zu berühren. Doch Lenie wäre anders, wenn er zu ihr durchdringen könnte. Sie ist Schatten ähnlicher, als all die anderen es jemals gewesen sind. Auch wenn sie älter ist.
Nicht älter, als ich es jetzt wäre, murmelt Schatten. Vielleicht ist es das.
Sein Mund bewegt sich – Es tut mir so leid, Lenie –, doch kein Geräusch kommt ihm über die Lippen. Schatten verbessert ihn nicht.
So macht man das, hatte sie gesagt, und dann hatte sie angefangen zu weinen. So wie Fischer jetzt weint. So wie er es
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