Abgrund: Roman (German Edition)
immer tut, wenn er kommt.
Ein wenig später erwacht er von dem Schmerz. Er liegt zusammengerollt auf seiner Pritsche, und etwas schneidet ihn in die Wange: ein kleiner Glassplitter.
Ein Stückchen von einem zerbrochenen Spiegel.
Verwirrt betrachtet er ihn. Ein silberner Glassplitter mit einer dunklen, blutigen Spitze, wie ein kleiner Zahn. In seiner Kabine gibt es keinen Spiegel.
Er streckt die Hand aus und berührt das Schott hinter seinem Kopfkissen. Lenie ist dort, auf der anderen Seite. Doch hier, auf dieser Seite, sieht er eine dunkle Linie, einen schattenhaften Rand, der ihm zuvor noch nicht aufgefallen ist. Seine Augen folgen ihm an der Wandkante entlang, ein Schlitz, der etwa einen halben Zentimeter breit ist. Hier und da stecken noch kleine Glasstückchen darin.
Das gesamte Schott wurde einmal von einem Spiegel verdeckt. Genau wie in Scanlons Aufzeichnungen. Und den kleinen Bruchstücken nach zu urteilen, die noch davon übrig sind, wurde er nicht einfach von der Wand genommen. Jemand hat ihn zerschlagen.
Lenie. Bevor die restlichen Besatzungsmitglieder eingetroffen sind, ist sie durch die ganze Station gegangen und hat sämtliche Spiegel zerschlagen. Er weiß nicht, warum er sich da so sicher ist, aber er hat das Gefühl, dass Lenie Clarke genau so etwas tun würde, wenn sie unbeobachtet ist.
Vielleicht betrachtet sie sich nicht gern im Spiegel. Vielleicht schämt sie sich.
Rede mit ihr, sagt Schatten.
Das kann ich nicht .
Doch, das kannst du. Ich werde dir dabei helfen.
Er greift nach dem Oberteil seiner Taucherhaut. Sie schmiegt sich an seinen Körper, ihre Nähte fügen sich auf seiner Brust zusammen. Er steigt über die Ärmel und die Hose hinweg, die immer noch auf dem Deck liegen, und greift nach seinen Augenkappen.
Lass sie liegen.
Nein!
Doch.
Ich kann nicht, sie wird mich sehen …
Das willst du doch, oder? Oder?
Sie mag mich nicht einmal besonders, sie wird einfach …
Lass sie liegen. Ich habe gesagt, ich helfe dir.
Mit geschlossenen Augen lehnt er gegen die Luke, sein Atem klingt ihm laut und schnell in den Ohren.
Mach weiter. Mach weiter.
Der Korridor ist in mattes Zwielicht getaucht. Fischer geht den Gang entlang zu Lenies geschlossener Luke. Er berührt sie und traut sich nicht anzuklopfen.
Jemand tippt ihm von hinten auf die Schulter.
»Sie ist nicht da«, sagt Brander. Seine Taucherhaut ist bis zum Nacken geschlossen, Arme und Beine sind vollständig eingehüllt. Seine Augen mit den Kappen sind leer und hart. Und in seiner Stimme liegt der übliche gereizte Tonfall, der zu sagen scheint: Gib mir bloß einen Grund, du Arschloch, tu irgendetwas …
Vielleicht hat er es ebenfalls auf Lenie abgesehen.
Mach ihn nicht wütend, sagt Schatten.
Fischer schluckt. »Ich wollte bloß mit ihr reden.«
»Sie ist nicht da .«
»Okay. Ich … ich versuch’s später noch mal.«
Brander streckt die Hand aus und berührt Fischers Gesicht. Als er sie zurückzieht, sind seine Finger klebrig.
»Sie haben sich geschnitten«, sagt er.
»Das ist nichts weiter. Mir geht es gut.«
»Wie schade.«
Fischer will sich an Brander vorbei zu seiner eigenen Kabine drängen. Der Korridor ist jedoch so eng, dass sie dabei aneinandergedrückt werden.
Brander ballt die Fäuste. »Verdammt noch mal, fassen Sie mich nicht an.«
»Das tue ich nicht. Ich versuche doch nur … Ich meine …« Fischer verstummt und blickt sich um. Weit und breit ist niemand zu sehen.
Brander muss sich sichtlich zur Ruhe zwingen.
»Und setzen Sie verflucht noch mal Ihre Augen wieder ein«, sagt er. »Das will nun wirklich niemand sehen.«
Er dreht sich um und geht davon.
Angeblich schläft Lubin draußen. Auch Lenie tut das manchmal, doch Lubin hat nicht mehr in seiner Koje geschlafen, seit die anderen Mannschaftsmitglieder eingetroffen sind. Er lässt seine Stirnlampe ausgeschaltet, hält sich vom beleuchteten Teil des Schlunds fern und bleibt dadurch unbehelligt. Fischer hat gehört, wie Nakata und Caraco während der letzten Schicht darüber redeten.
Inzwischen klingt das immer verlockender. Je weniger Zeit er im Innern der Station verbringt, desto besser.
Die Station ist ein ferner, trüber Fleck, der zu Fischers Linken leuchtet. Dort drinnen ist Brander. In drei Stunden fängt seine Schicht an. Fischer denkt darüber nach, noch so lange hier draußen zu bleiben. Er muss nicht unbedingt nach drinnen gehen. Keiner von ihnen muss das. An seinen Elektrolyseur ist ein kleiner Entsalzer angeschlossen, für den
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