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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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Surren, die entstellte Wiedergabe von Branders Räuspern. »Judy hat gesagt, dass Sie hier draußen sind«, erklärt er.
    »Judy.« Sie meint es als Frage, doch über den Stimmwandler geht die Satzmelodie verloren.
    »Ja. Sie hat hin und wieder ein Auge auf Sie.«
    Clarke denkt einen Moment lang darüber nach. »Sagen Sie ihr, dass ich harmlos bin.«
    »Darum geht es nicht«, erwidert Branders surrende Stimme. »Ich glaube … sie macht sich einfach Sorgen …«
    Clarke spürt, wie an ihren Mundwinkeln ein paar Muskeln zucken. Sie schließt daraus, dass sie möglicherweise lächelt.
    »Das heißt dann wohl, dass wir zusammen auf Schicht sind«, sagt sie nach einer Weile.
    Die Stirnlampe hüpft auf und ab. »Ja. Ein Haufen Muscheln wartet darauf, dass wir ihnen die Ärsche abkratzen. Noch mehr Quantenwissenschaft.«
    Sie streckt sich in der Schwerelosigkeit. »Also gut. Dann wollen wir mal.«
    »Lenie …«
    Sie blickt zu ihm hoch.
    »Warum kommen Sie … ich meine, warum hier?« Branders Stirnlampe wandert über den Meeresboden und bleibt schließlich an einem Berg aus Knochen und verrottendem Fleisch hängen. Ein skelettartiges Lächeln verläuft im Zickzack durch den Lichtkreis. »Haben Sie ihn etwa getötet?«
    »Ja, ich …« Sie verstummt, als ihr klar wird: Er hat den Wal gemeint .
    »Nein«, berichtigt sie sich. »Er ist von selbst gestorben.«

    Natürlich wacht sie allein auf. Hin und wieder versuchen sie noch, die Nacht miteinander zu verbringen, wenn sie nach dem Sex zu träge sind, um nach draußen zu gehen. Doch die Koje ist zu schmal. Sie können sich höchstens schräg über die Pritsche legen, die Füße auf dem Boden, den Nacken gegen das Schott gedrückt, während Acton sie in die Arme schließt wie eine lebende Hängematte. Wenn sie Pech haben, schlafen sie tatsächlich in dieser Haltung ein. Hinterher dauert es ewig, bis sie ihren Körper wieder strecken können. Die Unannehmlichkeiten sind es einfach nicht wert.
    Also wacht sie allein auf. Doch sie vermisst ihn trotzdem.
    Es ist noch früh. Die Arbeitspläne, die die Netzbehörde für sie aufgestellt hat, verlieren zunehmend an Bedeutung. Durch die ständige Dunkelheit gerät ihr Tagesrhythmus durcheinander und verschiebt sich. Doch selbst nach dem lockeren Zeitplan, der noch übrig ist, bleiben ihr einige Stunden, ehe ihre Schicht anfängt. Lenie Clarke ist mitten in der Nacht wach geworden. Monate vom nächsten Sonnenaufgang entfernt, kommt ihr diese Feststellung albern und offensichtlich vor, doch in diesem Augenblick scheint sie besonders zutreffend zu sein.
    Draußen im Korridor geht sie erst in Richtung von Actons Kabine, ehe es ihr wieder einfällt. Dort drin ist er schon lange nicht mehr. Er kommt überhaupt nur noch selten in die Station, höchstens um zu essen, zu arbeiten oder um mit ihr zusammen zu sein. Seit sie ihre Beziehung begonnen haben, hat er kaum mehr in seinem Quartier geschlafen. Mit ihm ist es schon beinahe so schlimm wie mit Lubin.
    Caraco sitzt schweigend und reglos im Aufenthaltsraum, ihrer eigenen inneren Uhr gehorchend. Als Clarke an ihr vorbei zur Kommunikationszentrale geht, blickt sie auf.
    »Er ist vor etwa einer Stunde hinausgegangen«, sagt sie leise.
    Das Echolot zeigt ihn fünfzig Meter in südöstlicher Richtung, kaum erkennbar vor dem Geröll, das den Meeresboden überzieht. Clarke geht zur Leiter.
    »Letztens hat er uns etwas gezeigt«, sagt Caraco hinter ihr. »Ken und mir.«
    Clarke blickt zurück.
    »Einen Raucher, weit abgelegen am Rand des Schlunds. Er hat einen seltsam geriffelten Schornstein und erzeugt ein pfeifendes Geräusch, beinahe wie …«
    »Hmm.«
    »Aus irgendeinem Grund wollte er, dass wir uns das anschauen. Er war richtig aufgeregt. Dort draußen benimmt er sich irgendwie … seltsam, Lenie.«
    »Judy«, sagt Clarke in gleichgültigem Tonfall, »warum erzählen Sie mir das?«
    Caraco wendet den Blick ab. »Tut mir leid. Es hat nichts zu bedeuten.«
    Clarke beginnt die Leiter hinunterzusteigen.
    »Seien Sie vorsichtig, ja?«, ruft Caraco hinter ihr her.
    Clarke findet ihn zusammengerollt, die Knie an die Brust gezogen, wenige Zentimeter über einem steinernen Garten schwebend. Seine Augen sind natürlich offen. Sie streckt die Hand aus und berührt ihn durch zwei Schichten aus Reflex-Copolymer.
    Er regt sich kaum. Sein Stimmwandler gibt hin und wieder ein Klicken von sich.
    Clarke schmiegt sich an ihn. In einem Schoß aus eiskaltem Meerwasser schlafen sie bis zum Morgen

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