Abgrund: Roman (German Edition)
weiter.
Kurzschluss
Ich werde nicht nachgeben .
Es wäre so einfach. Sie könnte draußen leben und müsste nicht mehr in diese knarrende Eierschale zurückkehren, außer um zu essen, zu baden und all die Aufgaben zu erledigen, bei denen man eine Atmosphäre benötigt. Ihr ganzes Leben lang könnte sie über dem Meeresboden dahinfliegen. Lubin tut das bereits. Und Brander, Caraco und sogar Nakata fangen inzwischen auch schon damit an.
Lenie Clarke weiß, dass sie nicht in die Station gehört. Keiner von ihnen gehört hierher.
Doch zugleich fürchtet sie sich auch davor, was die Welt dort draußen mit ihr anstellen könnte. Womöglich werde ich wie Fischer. Es wäre so leicht … einfach zu verschwinden. Wenn mich nicht vorher schon eine heiße Quelle oder eine Schlammlawine erwischt.
Ihr Leben ist ihr in letzter Zeit ziemlich wichtig geworden. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass sie den Verstand verliert. Welcher Rifter sorgt sich schon um sein Leben? Doch die Riftzone macht ihr inzwischen immer mehr Angst.
Das ist Schwachsinn. Kompletter Schwachsinn.
Wer würde sich nicht fürchten?
Fürchten. Ja. Vor Karl. Vor dem, was er dir antun wird, wenn du ihn lässt .
Wie lange ist es jetzt her? Eine Woche?
Zwei Tage .
Zwei Tage, seit sie draußen übernachtet hat. Zwei Tage, seit sie beschlossen hat, sich in der Station einzusperren. Sie geht zum Arbeiten nach draußen und kommt wieder zurück, sobald ihre Schicht vorbei ist. Niemand hat deswegen etwas zu ihr gesagt. Vielleicht ist es niemandem aufgefallen. Wenn die anderen nach der Arbeit nicht in die Station zurückkehren, verteilen sie sich über den Meeresboden, um in der herrlichen, eisigen Einsamkeit ihren Angelegenheiten nachzugehen.
Sie war sich jedoch sicher, dass es Acton auffallen würde. Ihm würde es auffallen, und er würde sie vermissen und ihr in die Station folgen. Oder vielleicht würde er auch versuchen, sie davon zu überzeugen, draußen zu bleiben, und sich mit ihr streiten, wenn sie sich weigerte. Doch er hat sich nichts anmerken lassen. Er verbringt genauso viel Zeit draußen wie sonst auch. Natürlich trifft sie ihn noch. Beim Essen. In der Bibliothek. Einmal hatten sie Sex, wobei keiner von ihnen etwas Bedeutsames gesagt hat. Und dann ist er wieder in den Ozean zurückgekehrt.
Er hat keine Übereinkunft mit ihr getroffen. Sie hat ihm nicht einmal von dem Entschluss erzählt, den sie für sich selbst getroffen hat. Dennoch fühlt sie sich verraten.
Sie braucht ihn. Sie weiß, was das bedeutet, sieht ihre eigenen Fußabdrücke auf der Straße, die vor ihr liegt. Doch die Zeichen zu erkennen und den Kurs zu wechseln, sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. Alles in ihr zieht es nach draußen, ob nun zu ihm oder einfach hinaus in den Ozean, kann sie nicht sagen. Doch solange er draußen ist und sie im Innern der Station, kann Lenie Clarke sich immer noch einreden, dass sie alles unter Kontrolle hat.
In gewisser Weise ist das ein Fortschritt.
Zusammengerollt in ihrer Kabine, die Luke fest verschlossen, hört sie von unten das Gluckern der Luftschleuse. Wie ferngesteuert steht sie vom Bett auf.
Geräusche sind zu hören, ein Körper, der auf Metall trifft, Hydraulik und Pneumatik. Eine Stimme. Lenie Clarke ist auf dem Weg zum Schleusenraum.
Er hat ein Ungeheuer mit hereingebracht. Es ist ein etwa zwei Meter langer Anglerfisch, ein geleeartiger Fleischsack mit Zähnen, die halb so lang sind wie Clarkes Unterarm. Zitternd liegt der Fisch auf dem Deck – in der vakuumähnlichen Oberflächenatmosphäre, die in Beebe herrscht, sind ihm die Eingeweide durch das Maul herausgeplatzt. Überall aus seinem Körper sprießen Dutzende von Miniaturschwänzen, die schwach zucken.
Caraco und Lubin sehen von ihrer Arbeit an der Werkbank auf und blicken herüber. Acton steht neben seinem Fang; aus seinem Brustkorb, der noch nicht wieder mit Luft gefüllt ist, dringt ein Zischen.
»Wie hast du das in die Schleuse hineinbekommen?«, fragt Clarke.
»Und vor allem«, sagt Lubin und kommt herüber, »wozu haben Sie sich die Mühe gemacht?«
»Was sind das für Schwänze?«, fragt Caraco.
Acton grinst sie an. »Das sind keine Schwänze, sondern Geschlechtspartner.«
Lubins Gesichtsausdruck bleibt unverändert. »Tatsächlich.«
Clarke beugt sich vor. Jetzt kann sie erkennen, dass es nicht nur Schwänze sind; manche von ihnen haben zusätzliche Flossen an den Seiten und auf dem Rücken. Einige haben Kiemen. Andere besitzen sogar Augen. Es sieht
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