Abgrund: Roman (German Edition)
alles?«, fragt sie mit einem metallischen Flüstern. »Woher kommen Sie?«
Er legt ihr eine eisige schwarze Hand auf den Arm. »An diesem Ort wurde ich geboren.«
Das erscheint ihr gar nicht so abwegig. Eigentlich hört sie ihn kaum. Ihre Gedanken sind ganz woanders, als sie mit Schrecken eine plötzliche Erkenntnis überkommt.
Acton berührt sie, und es macht ihr nichts aus.
Natürlich ist der Sex elektrisierend. Das ist er immer. Hier im beengten Raum ihrer Kabine ist Clarke vom Alltag eingeholt worden. Sie können nicht beide zugleich auf der Pritsche liegen, doch irgendwie gelingt es ihnen. Erst ist Acton auf den Knien, dann Clarke. Sie winden sich umeinander in einem metallenen Nest, das mit Rohren, Lüftungsöffnungen und Bündeln von optischen Kabeln ausgekleidet ist. Sie erforschen die Nähte und Narben des anderen, ihre Zungen tasten über metallene Erhebungen und blasse Haut, unsichtbar und dennoch alles sehend hinter ihrer gepanzerten Hornhaut.
Für Clarke ist es etwas ganz Neues, diese eisige Ekstase eines Liebhabers ohne Augen. Zum ersten Mal hat sie nicht das Gefühl, das Gesicht abwenden zu müssen, weil die zerbrechliche Vertrautheit nicht gefährdet ist. Als Acton anfangs die Augenkappen herausnehmen wollte, hat sie ihn mit einer Berührung und einem Flüstern davon abgehalten, und er schien sie zu verstehen.
Hinterher können sie nicht nebeneinanderliegen, also sitzen sie Seite an Seite aneinandergelehnt da und betrachten die Kabinenluke zwei Meter vor ihnen. Für die Augen von Landratten wäre die Beleuchtung zu dunkel; für Clarke und Acton ist der Raum von einem schwachen floureszierenden Leuchten erfüllt.
Acton streckt die Hand aus und betastet einen Glassplitter, der aus einem leeren Rahmen an der Wand ragt. »Hier hat einmal ein Spiegel gehangen«, stellt er fest.
Clarke knabbert an seiner Schulter. »Hier gab es überall Spiegel. Ich … habe sie entfernt.«
»Warum? Ein paar Spiegel würden die Station ein wenig öffnen. Sie größer erscheinen lassen.«
Sie deutet auf das Schott. Mehrere abgerissene Kabel hängen dünn wie Fäden aus einem Loch im Spiegelrahmen. »Dahinter hatten sie Kameras installiert. Das hat mir nicht gefallen.«
Acton knurrt. »Kann ich mir vorstellen.«
Eine Zeitlang sitzen sie nur schweigend da.
»Du hast draußen etwas gesagt«, spricht Clarke schließlich weiter. »Du hast gesagt, du seist hier unten geboren worden.«
Acton zögert und nickt dann. »Vor zehn Tagen.«
»Wie hast du das gemeint?«
»Das solltest du doch wissen«, sagt er. »Du warst bei meiner Geburt dabei.«
Sie denkt nach. »Das war, als der Sackmäuler dich erwischt hat …«
»Nahe dran.« Acton verzieht das Gesicht zu einem kalten, blicklosen Grinsen und legt den Arm um sie. »Wenn ich mich recht erinnere, war der Sackmäuler in gewissem Sinne der Auslöser. Man könnte ihn vielleicht als Hebamme bezeichnen.«
Vor ihrem inneren Auge taucht ein Bild auf: Acton in der Krankenstation, wie er sich selbst auseinandernimmt.
»Die Feinabstimmung«, sagt sie.
»Hm-hm.« Er drückt sie an sich. »Und das habe ich dir zu verdanken. Du hast mich auf die Idee gebracht.«
»Ich?«
»Du warst meine Mutter, Len. Und mein Vater war diese spastische kleine Garnele, die sich hierher verirrt hat. Sie ist gestorben, bevor ich geboren wurde: Ich habe sie umgebracht. Damals warst du nicht sonderlich glücklich darüber.«
Clarke schüttelt den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
»Willst du damit sagen, dass dir die Veränderung nicht aufgefallen ist? Willst du behaupten, ich sei noch derselbe Mensch, der ich war, als ich hier heruntergekommen bin?«
»Das weiß ich nicht«, sagt sie. »Vielleicht habe ich dich auch einfach nur besser kennengelernt.«
»Vielleicht. Möglicherweise habe ich mich auch selbst besser kennengelernt. Ich weiß es nicht, Len, ich fühle mich jetzt einfach … deutlich wacher. Ich sehe inzwischen vieles anders. Das musst du doch bemerkt haben.«
»Ja, aber nur, wenn du …«
Draußen bist .
»Du hast etwas mit deinen Inhibitoren gemacht«, flüstert sie.
»Ich habe die Dosis ein wenig reduziert.«
Sie packt ihn am Arm. »Karl, diese chemischen Verbindungen verhindern, dass du den Verstand verlierst, wenn du rausgehst. Wenn du mit diesem Zeug herumexperimentierst, riskierst du einen epileptischen Anfall, sobald sich die Luftschleuse mit Wasser füllt.«
»Ich habe schon damit herumexperimentiert, Lenie. Siehst du an mir irgendeine Veränderung, die nicht eine
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