Abgrund: Roman (German Edition)
aus, als würde sich eine ganze Schule kleinerer Anglerfische in den großen hineinbohren. Manche stecken nur mit dem Maul drin, andere sind bis zum Schwanz darin begraben.
Ihr kommt ein anderer, noch abstoßenderer Gedanke: Der große Fisch braucht gar kein Maul mehr. Er saugt die kleineren Fische einfach durch die Haut in sich hinein wie eine riesige Mikrobe.
»Gruppensex in der Riftzone«, sagt Acton. »Die großen Anglerfische, die wir bisher gesehen haben, waren allesamt Weibchen. Die Männchen sind diese winzigen fingergroßen Scheißerchen hier. So tief unten gibt es nicht allzu viele Gelegenheiten zu einem Date, also heften sie sich an das erstbeste Weibchen, das sie finden können, und verschmelzen praktisch mit ihm – ihre Köpfe verschwinden darin, und ihre Blutkreisläufe verbinden sich miteinander. Sie sind Parasiten, verstehen Sie? Sie bohren sich in die Seite des Weibchens und ernähren sich ihr ganzes Leben lang von ihm. Und es gibt verdammt viele von ihnen, aber das Weibchen ist größer als sie und stärker. Sie könnte sie bei lebendigem Leib fressen, wenn sie nur …«
»Er ist wieder in der Bibliothek gewesen«, stellt Caraco fest.
Acton mustert sie einen Moment lang. Bedächtig weist er auf den aufgeblähten Kadaver auf Deck. »Das sind wir.« Er packt eines der parasitischen Männchen und reißt es heraus. »Und das sind all die anderen. Verstehen Sie?«
»Aha!«, sagt Lubin. »Eine Metapher. Wie geistreich.«
Acton macht einen Schritt auf ihn zu. »Lubin, Sie fangen langsam an, mir auf die Nerven zu gehen.«
»Tatsächlich.« Lubin wirkt nicht im Geringsten beeindruckt.
Clarke tritt auf sie zu. Sie stellt sich nicht direkt zwischen sie, sondern nur neben sie und bildet damit den Scheitelpunkt eines menschlichen Dreiecks. Sie hat keine Ahnung, was sie tun soll, wenn die Situation eskaliert. Sie weiß nicht, was sie sagen könnte, um das zu verhindern.
Plötzlich ist sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie es überhaupt verhindern will.
»Jetzt kommen Sie schon.« Caraco lehnt sich gegen das Trockengestell. »Lässt sich das nicht auf andere Weise klären? Vielleicht holen Sie einfach ein Lineal und vergleichen ihre Schwanzlänge oder etwas in der Art?«
Alle Blicke richten sich auf sie.
»Vorsicht, Judy. Das war ziemlich unverschämt.«
Jetzt blicken alle Clarke an.
Habe ich das wirklich gesagt?
Lange Zeit geschieht nichts weiter. Dann gibt Lubin ein Knurren von sich und geht an die Werkbank zurück. Acton blickt ihm nach, und nachdem die unmittelbare Bedrohung nun vorbei ist, tritt er wieder in die Luftschleuse zurück.
Der tote Anglerfisch mit seiner von Parasiten überzogenen Haut liegt zitternd auf dem Deck.
»Er wird wirklich immer seltsamer, Lenie«, sagt Caraco, als sich die Luftschleuse mit Wasser füllt. »Vielleicht sollten Sie ihn einfach ziehen lassen.«
Clarke schüttelt bloß den Kopf. »Wohin?«
Es gelingt ihr sogar zu lächeln.
Sie hat nach Karl Acton gesucht, doch stattdessen hat sie Gerry Fischer gefunden. Er betrachtet sie traurig vom anderen Ende eines langen Tunnels. Er scheint einen ganzen Ozean von ihr entfernt zu sein. Er sagt nichts, doch sie spürt seine Trauer und Enttäuschung. Sie haben mich angelogen, scheint das Gefühl zu sagen. Sie haben gesagt, dass Sie mich besuchen würden, und Sie haben gelogen. Sie haben mich völlig vergessen .
Er irrt sich. Sie hat ihn überhaupt nicht vergessen. Obwohl sie es versucht hat.
Natürlich spricht sie das nicht laut aus, doch irgendwie scheint er es trotzdem zu spüren. Seine Empfindungen verändern sich; die Trauer lässt nach, und stattdessen steigt etwas Kälteres in ihm auf, etwas so Tiefes und Altes, dass es sich mit Worten nicht beschreiben lässt.
Etwas Reines.
Von hinten berührt sie etwas an der Schulter. Augenblicklich auf der Hut wirbelt sie herum, während ihre Hand nach ihrem Knüppel greift.
»He, beruhige dich. Ich bin’s.« Actons Silhouette schwebt vor einem schwachen Lichtschimmer, der vom Schlund herüberdringt. Clarke entspannt sich wieder und stupst ihn sanft gegen die Brust, ohne etwas zu sagen.
»Schön, dass du wieder da bist«, sagt Acton. »Ich habe dich schon lange nicht mehr hier draußen gesehen.«
»Ich … ich habe nach dir gesucht«, sagt sie.
»Im Schlamm?«
»Was?«
»Du hast einfach hier geschwebt, mit dem Gesicht nach unten.«
»Ich habe …« Sie spürt immer noch eine leichte Beunruhigung, doch sie kann sich nicht mehr erinnern, weswegen. »Ich muss
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