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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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Als die Nachbilder auf ihrer Netzhaut verschwunden sind, bildet der Ozean einen schlammig schwarzen Hintergrund für den hellen Lichtkegel von Actons Stirnlampe.
    »Tun Sie das nicht«, sagt sie. »Alles wird so dunkel, wenn man das Licht anmacht, man kann gar nichts mehr erkennen …«
    »Ich weiß. Ich schalte die Lampe gleich wieder aus. Schauen Sie sich das nur einmal an.«
    Der Strahl seiner Lampe beleuchtet eine kleine, etwa zwei Meter große Gesteinsformation, die aus dem Schlamm ragt. Ihre Oberfläche ist von gezackten Blumen bedeckt, die an Ausstechförmchen erinnern – Klumpen mit strahlenförmigen Armen, die in dem künstlichen Licht in einem grellen Rot und Blau leuchten. Manche schmiegen sich flach an die Felswand. Andere sind zu grotesk verzerrten Kalkhaufen erstarrt, die Dinge umklammert halten, die Clarke nicht erkennen kann.
    Wieder andere bewegen sich langsam.
    »Sie haben mich hierhergebracht, um Seesterne anzuschauen?« Sie versucht, mithilfe des Stimmwandlers einen Hauch gelangweilter Verachtung auszudrücken, doch es gelingt ihr nicht. Sie verspürt allerdings eine unbestimmte, ängstliche Verwunderung darüber, dass er sie hierhergeführt hat, dass sie sich, ohne es zu bemerken, vollkommen vom Kurs hat abbringen lassen. Wie hat er das hier überhaupt gefunden? Er hat keine Echolotpistole, und ein Kompass ist so nahe am Schlund nutzlos …
    »Ich dachte, dass Sie sie wahrscheinlich noch nie genau betrachtet haben«, sagt Acton. »Und dass es Sie vielleicht interessieren könnte.«
    »Für so etwas haben wir keine Zeit, Acton.«
    Er streckt die Hände ins Licht und ergreift einen der Seesterne. Langsam zieht er ihn vom Gestein ab; an der Unterseite des Geschöpfs befinden sich irgendwelche Fasern, die es im Fels verankern. Acton reißt sie Stück für Stück ab.
    Er hält Clarke das Tier hin, damit sie es betrachten kann. Seine Oberfläche besteht aus farbigem Stein, der mit kalkhaltigen Dornen überkrustet ist. Acton dreht es um. An der Unterseite winden sich Hunderte von dicken, zuckenden Fäden, die in dichten Reihen entlang der Arme zusammengepresst sind. An der Spitze jedes Fadens befindet sich ein winziger Saugnapf.
    »Ein Seestern«, erläutert Acton, »ist die ultimative Demokratie.«
    Angewidert betrachtet Clarke das Tier und schweigt.
    »Auf diese Weise bewegen sie sich vorwärts«, sagt Acton. »Sie ziehen sich mithilfe all dieser Röhrenfüßchen voran. Das Seltsame ist jedoch, dass sie keinerlei Gehirn besitzen. Was bei einer Demokratie eigentlich nicht überrascht.«
    Reihen sich windender Maden. Ein Wald aus durchscheinenden Blutegeln, die blind im Wasser herumtasten.
    »Es gibt also nichts, das die Röhrenfüßchen koordinieren könnte. Sie bewegen sich alle unabhängig voneinander. Normalerweise ist das kein Problem. Sie wandern zum Beispiel alle in Richtung Nahrung. Doch es kommt durchaus vor, dass etwa ein Drittel der Füßchen in eine ganz andere Richtung läuft. Das ganze Tier ist ein ständiger Tauziehwettbewerb. Manchmal wollen ein paar besonders hartnäckige Röhrenfüßchen einfach nicht nachgeben und werden buchstäblich mit den Wurzeln herausgerissen, während die anderen den Körper in die entgegengesetzte Richtung bewegen. Aber was soll man sagen: Die Mehrheit siegt, nicht wahr?«
    Clarke streckt zögernd einen Finger aus. Ein halbes Dutzend Röhrenfüßchen heftet sich daran fest. Durch die Taucherhaut kann sie sie nicht spüren. Wenn sie einen Halt gefunden haben, wirken sie beinahe zerbrechlich, wie Fäden aus Milchglas.
    »Aber das ist noch gar nichts«, sagt Acton. »Schauen Sie sich das an.«
    Er zerbricht den Seestern in zwei Hälften.
    Erschrocken und wütend weicht Clarke zurück. Doch etwas an Actons Haltung, an dem kaum sichtbaren Umriss hinter seiner Lampe, lässt sie innehalten.
    »Keine Sorge, Lenie«, sagt er. »Ich habe es nicht getötet. Ich habe ihm bei der Fortpflanzung geholfen.«
    Er lässt die zerbrochenen Hälften fallen. Wie Blätter segeln sie zum Meeresboden hinab und ziehen dabei Stücke aus blutleeren Eingeweiden hinter sich her.
    »Sie können sich regenerieren. Haben Sie das nicht gewusst? Man kann sie in Stücke brechen, und jedem der Einzelteile wachsen die fehlenden Glieder nach. Es dauert eine Weile, aber sie erholen sich. Allerdings sind sie dann mehr geworden. Diese Viecher sind verdammt schwierig umzubringen. Verstehen Sie, Lenie? Man reißt sie in Stücke, und sie werden dadurch nur noch stärker.«
    »Woher wissen Sie das

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