About Ruby
unwillkürlich an den Abend denken, an dem ich ihn genau an derselben Stelle mit Roscoe erlebt hatte. »Wie geht es deinem Schwager? Es gibt Gerüchte, dass er mit seiner Firma demnächst an die Börse gehen will. Ist da irgendetwas dran?«
»Äh . . . keine Ahnung«, erwiderte ich.
»Wir sollten fahren«, sagte Nate zu ihm. »Sie wollten, dass wir die Tüten um zehn liefern.«
»Du hast recht.« Doch Mr Cross rührte sich nicht vom Fleck. Und auch sein Lächeln blieb, verfolgte mich regelrecht, während ich um das Schwimmbecken herum Richtung Gartentor lief. Nate war mittlerweile zu seinem Vater ins Haus gegangen. Auch er blickte mir nach, doch als ich die Hand hob, um ihm zuzuwinken, zog er sich in den Flurhinter der Tür zurück und war damit außer Sichtweite. »Mach’s gut«, rief Mr Cross mir hinterher und hob seinerseits die Hand. Offensichtlich hatte er mein Winken auf sich bezogen. »Und komm mal wieder vorbei. Wir sind doch keine Fremden mehr.«
Ich nickte. Aber das eigenartig beklommene Gefühl blieb bestehen, selbst nachdem ich durchs Tor auf unsere Seite des Zauns gegangen war. Während ich über die Wiese aufs Haus zulief, fiel mir plötzlich das Schokohäuschen wieder ein, das Nate mir gegeben hatte. Ich holte es aus der Tasche, zog es hervor, betrachtete es erneut. Unberührt, perfekt, in jungfräuliches Plastik gehüllt, mit einer hübschen Schleife versehen. Doch gleichzeitig war es mir geradezu unheimlich, wobei ich nicht hätte erklären können, warum. Deshalb ertappte ich mich dabei, wie ich es hastiger als nötig wieder in die Tasche stopfte.
***
»Na gut.« Ich zog die Hülle von meinem Stift. »Was bedeutet für euch Familie?«
»Sich anzuschweigen«, antwortete Harriet wie aus der Pistole geschossen.
»Sich anzuschweigen?«, wiederholte Reggie verwundert.
»Ja.«
Er sah sie bloß stumm an.
»Wieso? Was würdest du denn sagen?«
»Keine Ahnung«, meinte er. »Trost vielleicht, oder Schutz? Gemeinsame Geschichte? Der Anfang des Lebens?«
»Das gilt vielleicht für dich«, erwiderte sie. »Für mich heißt Familie, dass man nicht miteinander spricht. Angeschwiegen wird. Eigentlich redet immer irgendwer gerade nicht mit irgendwem.«
»Echt?«, fragte ich.
»Wir sind ein ziemlich passiv-aggressiver Haufen.« Harriet trank einen Schluck von ihrem unvermeidlichen Kaffee. »Totenstille, Schweigen . . . das sind unsere liebsten Waffen. Momentan herrscht beispielsweise totale Funkstille zwischen zwei meiner Schwestern, einem meiner Brüder und mir.«
»Wie viele Geschwister hast du denn?«, erkundigte ich mich.
»Wir sind insgesamt sieben.«
»So was ist schlimm«, meinte Reggie.
»Du sagst es«, entgegnete Harriet. »Ich hatte nie genug Zeit im Bad.«
»Ich spreche davon, dass ihr nicht miteinander redet«, sagte Reggie.
»Ach so.« Harriet setzte sich schwungvoll auf den hohen Hocker neben der Kasse, schlug die Beine übereinander. »Mag sein. Aber auf jeden Fall spart es Telefonkosten.«
Er warf ihr einen kritischen Blick zu. »Ich finde das nicht witzig. Es gibt nichts Wichtigeres als Kommunikation.«
»Vielleicht für euch«, erwiderte sie. »Bei uns zu Hause herrscht die Devise: Schweigen ist Gold. Und der Normalfall.«
»Meiner Meinung nach«, begann Reggie, nahm sich ein Döschen Vitamin- A-Pillen und ließ sie geistesabwesend von einer Hand in die andere gleiten, »ist Familie wie eine Quelle sämtlicher menschlicher Energie. Der Ort, wo alles Leben beginnt.«
Harriet musterte ihn über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg. »Was machen deine Eltern noch mal beruflich?«
»Mein Vater ist Versicherungsmakler, meine Mutter Grundschullehrerin.«
»Typisch Vorstadt. Kleinbürger.«
»Du irrst dich.« Er lächelte. »Ob du es glaubst oder nicht –
ich
bin das schwarze Schaf der Familie.«
»Ich auch!«, sagte Harriet. »Ich sollte Medizin studieren. Mein Vater ist Chirurg. Als ich das Studium abbrach, um Schmuckdesignerin zu werden, flippten sie aus. Haben Monate nicht mehr mit mir gesprochen.«
»Das muss der Horror gewesen sein«, meinte Reggie.
Sie überlegte einen Moment. »Eigentlich nicht. Ich glaube eher, dass es gut für mich war. Meine Familie ist so riesig, und jeder hat zu allem und jedem eine Meinung, egal ob man sie hören möchte oder nicht. Ich hatte bis dahin noch nie irgendetwas allein entschieden oder getan. Immer wurde mir geholfen oder irgendein Kommentar um die Ohren gehauen. Mir kam es sehr befreiend vor, als das plötzlich
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