About Ruby
»Anscheinend soll man auflisten, wofür man dankbar ist. Und das dann beim Essen laut vorlesen. Haben wir daheim nie getan. Nie!«
Nate blätterte weiter durch den Stapel Papier. »Wir auch nicht. Ich meine, früher, als es noch ein Wir gab.«
Inzwischen hatte Mr Cross angefangen zu telefonieren, ich hörte seine Stimme aus dem Flur. Sie klang wesentlich munterer und freundlicher als zuvor; er sprach also vermutlich mit irgendeinem Kunden. »Wann haben deine Eltern sich getrennt?«
Nate nahm sich den Schlüsselbund, ließ die einzelnen Schlüssel durch seine Finger gleiten. »Als ich zehn war. Und deine?«
»Fünf«, antwortete ich. Der Backofen hinter mir ließ ein lautes Piepen vernehmen; vor meinem geistigen Auge erschien augenblicklich Roscoe, wie er sich in meinem Schrankversteckte. »Seitdem hat man von meinem Vater nicht mehr viel gehört oder gesehen.«
»Meine Mutter wohnt in Phoenix.« Nate fummelte einen Schlüssel vom Ring. »Nach der Scheidung bin ich mit ihr dort hingezogen. Aber nachdem sie wieder geheiratet hatte und meine Halbschwestern auf die Welt kamen, wurde ihr alles ein bisschen zu viel.«
»Was genau?«
»Ich«, antwortete er. »Ich war so in der Achten, Neunten, hab bloß rumgemotzt, ging ihr echt auf den Keks. Dabei wollte sie sich bloß auf ihre süßen, kleinen neuen Babys konzentrieren. Deshalb hat sie mich vorletztes Jahr rausgeschmissen und hergeschickt.« Ich muss ziemlich verdutzt ausgesehen haben, denn er fügte hinzu: »Was denn? Du bist eben nicht die Einzige mit einer bewegten Vergangenheit.«
»Ich hatte bisher einfach nur ein anderes Bild von dir und deinem Leben. ›Bewegt‹ wäre definitiv der falsche Ausdruck dafür.« Was, gelinde gesagt, eine grobe Untertreibung war. »Nicht einmal ansatzweise.«
»Ich kann es eben gut kaschieren«, meinte er locker. Lächelte mich an. »Müssen diese Kuchen nicht allmählich in den Ofen?«
»Ach so, ja, stimmt.«
Ich wandte mich um, öffnete das Backrohr, stellte die Kuchenformen nebeneinander auf den Rost. Nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte, sagte er: »Was steht denn auf deiner Liste von Sachen, für die man dankbar sein kann?«
»Ich habe noch nicht alles beisammen«, antwortete ich und schloss behutsam die Backofentür. »Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege: Die Tatsache, dass du eine bewegte Vergangenheithast und daher gar nicht so perfekt bist, wie es den Anschein hat, könnte es unter die ersten fünf schaffen.«
»Echt?«, fragte er.
»Logo. Ich dachte, ich bin das einzige schwarze Schaf weit und breit.«
»Bei Weitem nicht.« Er lehnte sich an die Küchentheke, verschränkte die Arme vor der Brust. »Was noch?«
»Nun ja«, meinte ich. Nahm mir den Schlüssel, den er aus dem Bund herausgenommen hatte. »Um ehrlich zu sein, habe ich eine ziemlich große Auswahl. Seit ich hergekommen bin, erlebe ich ziemlich viel Positives.«
»Das glaube ich dir gern«, erwiderte er.
»Zum Beispiel bin ich dieser Tage wirklich dankbar für ein Haus, in dem es Heizung und fließendes Wasser gibt«, sagte ich langsam.
»Das sollten wir alle.«
»Und ich habe echt Glück gehabt mit den Leuten, die ich kennengelernt habe«, fuhr ich fort. »Cora und Jamie natürlich, weil sie mich bei sich aufgenommen haben. Harriet, wegen des Jobs. Und Olivia, weil sie mir an jenem bewussten Tag geholfen hat und . . . äh . . . na ja, eben meine Freundin geworden ist.«
Er kniff die Augen zusammen, musterte mich forschend. »Aha.«
»Und . . . Gervais, nicht zu vergessen«, fügte ich hinzu. Ließ beim Sprechen den Schlüssel über meine Handfläche gleiten.
»Gervais«, wiederholte er trocken.
»Er rülpst so gut wie gar nicht mehr. Ich meine, das grenzt doch an ein Wunder. Und wenn ich dafür nicht dankbar bin, wofür dann?«
»Tja.« Nate legte den Kopf schräg. »Woher soll ich das wissen?«
»
Eventuell
gibt es ja noch etwas anderes«, meinte ich gedehnt und ließ den Schlüssel in meiner Hand kreiseln. Herum und herum und noch einmal herum. »Aber ich komme gerade nicht darauf.«
Er trat ganz dicht auf mich zu. Sein Arm streifte meinen zunächst nur. Verharrte dann aber, sodass sich unsere Arme berührten, während er die Hand ausstreckte, mir den Schlüssel abnahm und ihn auf den Tisch legte. »Vielleicht fällt es dir ja irgendwann wieder ein.«
»Vielleicht«, antwortete ich.
»Nate?«, rief Mr Cross. Er klang inzwischen ziemlich nah. Nate wich prompt zurück, sodass plötzlich wieder Abstand zwischen uns herrschte,
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