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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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»Im Moment bleibe ich erst mal bei meinem alten.«
    Die Luft draußen war frisch, klar, kalt. Während ich durch den Grüngürtel nach Hause lief, hob ich die Hand, berührte den Schlüssel an der Kette um meinen Hals. Um ehrlich zu sein, hatte ich in letzter Zeit öfter darüber nachgedacht, ob ich das Ding nicht abnehmen sollte. Mir kam es irgendwie lächerlich vor, den Schlüssel zu einem Haus mit mir rumzuschleppen, zu dem ich ohnehin keinen Zutritt mehr hatte. Und selbst wenn ich gewollt hätte   – ich hätte nie dorthin zurückkehren können. Deshalb hatte ich mich mehr als einmal dabei ertappt, wie ich den Verschluss öffnen wollte, um die Kette abzunehmen. Bevor ich es dann doch sein ließ.
    In der Nacht, als Nate und ich uns kennenlernten, hatte er mich gefragt:
Und wofür ist der
? Nichts, lautete damals meine Antwort. Aber das stimmte nicht. Außerdem: Sowohl damals als auch heute war der Schlüssel um meinen Hals nicht bloß eben der Schlüssel zur Tür des gelben Hauses, sondern auch zu mir und meinem früheren Leben. Im Lauf der vergangenen Wochen mochte ich ja begonnen haben, das allmählich zu vergessen. Vielleicht war es deshalb auf einmal nicht mehr komplett undenkbar gewesen, sich davon zu trennen. Doch nach den Ereignissen des gestrigen Abends hatte ich das Gefühl, es wäre vielleicht keine schlechte Idee, weiterhin etwas mit mir herumzutragen, das mich ausdrücklich an früher erinnerte. Deshalb würde der Schlüssel vorläufig bleiben, wo er war.
    ***
    Nach allem, was an Thanksgiving geschehen war, rechnete ich damit, dass die Atmosphäre im Auto bei der ersten Fahrt zur Schule nach dem verlängerten Wochenende ein bisschen komisch sein würde. War sie auch. Allerdings nicht in dem Sinn, wie ich erwartet hatte.
    »Hallo«, meinte Nate, als ich einstieg und mich neben ihn setzte. »Wie geht’s?«
    Er lächelte. Sah aus wie immer. Als wäre nichts Besonderes passiert. In seinen Augen war das wahrscheinlich sogar so. »Gut.« Ich schnallte mich an. »Und dir?«
    »Schlecht«, verkündete er munter. »Ich muss heute zwei Hausarbeiten abgeben und ein Referat halten. War letzte Nacht bis zwei Uhr auf.«
    »Wirklich?«, erwiderte ich, obwohl ich das im Prinzip längst gewusst hatte. Ich war nämlich ungefähr genauso lang wach gewesen und hatte das Licht in seinem Zimmer gesehen: zwei kleine helle Rechtecke rechts von mir in der Dunkelheit, die sich zwischen unseren Häusern erstreckte. »Ich muss eine Mathearbeit überstehen. Was bedeutet, dass ich fast hundertprozentig versagen werde.«
    Wo blieb Gervais’ Kommentar? Eine solche Aussage war doch ein gefundenes Fressen für ihn, schließlich ergriff er sonst jede Gelegenheit, mich fertigzumachen. Ich drehte mich leicht verdutzt um, da ich fest damit gerechnet hatte, er würde eine blöde Bemerkung machen, sobald ich den Satz vollendet hätte. Doch er saß einfach bloß stumm auf der Rückbank, ohne weiter groß aufzufallen, so wie eigentlich immer in den letzten Wochen. Allerdings erwischte ich ihn alle paar Tage dabei, dass er mich   – so wie neulich in der Mittagspause auf dem Schulhof   – verstohlen beobachtete. Und wenn ich ihm auf dem Flur begegnete, bedachte er mich immer mit diesem Blick, den ich nicht zu deuten vermochte.
    »Was ist?«, fragte er. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass ich ihn nach wie vor anstarrte.
    »Nichts.« Ich drehte mich wieder um, blickte nach vorn.
    Nate streckte die Hand aus, stellte das Radio lauter. Ordnete sich in den fließenden Verkehr ein. Eigentlich fühlte sich alles an wie immer, war okay, und mir wurde klar, dass ich vielleicht innerlich übertrieben hatte, als ich dachte, etwas hätte sich verändert. Letztlich war nichts weiter passiert, als dass ich etwas wusste, was ich vergangene Woche noch nicht gewusst hatte, und dass wir Freunde waren   – zumindest noch fürs nächste halbe Jahr oder so. Was zwischen seinem Vater und ihm ablief, ging mich nichts an, deshalb musste ich mich auch nicht weiter darüber aufregen. Mir war es ja bisher immer ähnlich ergangen; ich wollte auch nicht, dass sich irgendwer in meine familiären Angelegenheiten einmischte. Vielleicht war unsere jetzige Beziehung schlussendlich das Beste, was uns passieren konnte: Wir waren einander nah, aber nicht zu nahe. Der perfekte Mittelweg.
    Kurz vor der Schule bog Nate bei der Tanke ab, stieg aus, ging zur Zapfsäule. Ich lehnte mich auf meinem Sitz zurück und öffnete das Mathebuch, das auf meinem Schoß lag. Doch nach

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