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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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sie. Ich betrachtete derweil jeden Schlüssel einzeln. »Ich war fast wie besessen davon.«
    »Du solltest sie auf jeden Fall auslegen«, sagte ich zu ihr. »Und zwar sofort.«
    In rekordverdächtigem Tempo befestigten wir Preisschilder und arrangierten die Auslage neu. Ich hängte gerade die letzte Kette mitsamt Schlüsselanhänger an ein kleines Gestell, als es sechs schlug und die Türen der Mall sich öffneten. Zunächst drang das Geräusch nur wie aus weiter Ferne zu uns, wurde jedoch zunehmend lauter, gleich einer heranbrandenden Welle. Immer mehr Leute kamen in Sichtweite, füllten die langen, weiten Gänge. »Es geht los«, meinte Harriet. »Auf in den Kampf!«
    Zwanzig Minuten später verkauften wir die erste Kette mit Schlüsselanhänger, die zweite folgte im Abstand von einer halben Stunde. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte ich es nie und nimmer geglaubt: Jeder,wirklich
jeder
Kunde, der vorbeikam, blieb stehen, um sich die Ketten genauer anzuschauen. Nicht alle griffen zu und kauften. Doch auf jeden Fall erregten sie allgemeine Aufmerksamkeit. Und zwar immer wieder aufs Neue.
    Der Tag verging wie im Nebel, ein verschwommener Wirbel aus Menschen, Lärm und Weihnachtsmusik, die über unseren Köpfen dudelte, von der ich allerdings nur dann passagenweise etwas mitbekam, wenn der Krach und Betrieb vor unserem Laden kurzfristig etwas abebbten. Harriet trank einen Kaffee nach dem anderen, wir verkauften eine Kette mit Schlüsselanhänger nach der anderen. Meine Füße fingen an zu schmerzen, meine Stimme wurde vom ständigen Reden heiser. Die Zinkpastillen, die mir Reggie gegen Mittag anbot, halfen zwar etwas, aber nicht viel.
    Trotzdem war ich dankbar für den Tag und die Hektik; und sei es bloß, weil es mich von allem ablenkte, was ich am Tag zuvor bei Nate erlebt hatte. Es war mir den ganzen Rest des gestrigen Tages über nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Immer wieder fing ich an, darüber nachzudenken: nachdem ich die Kuchen glücklich zu Cora geschafft hatte, nachdem sie restlos vertilgt worden waren, während ich Cora half, die Spülmaschine einzuräumen, als ich mich anschließend erschöpft auf mein Bett sinken ließ. Nicht nur, was ich gehört und gesehen hatte, brachte mich aus dem inneren Gleichgewicht, sondern auch meine eigene Reaktion darauf.
    Nie hätte ich mich als jemanden eingeschätzt, der jemand anderem hilft oder ihn gar beschützt. Im Gegenteil, genau das hatte mich zu Beginn an Nate ja so genervt. Vermutlich deshalb war ich im entscheidenden Moment   –
Also verstehst du mich doch, oder etwa nicht?
– automatisch ausgewichen, hatte mich rausgehalten, das Thema fallen lassen, obwohl ich   – als seine Freundin   – genau andersherum hätte reagieren sollen. Nämlich auf ihn zugehen, ihn nötigenfalls sogar konfrontieren. Und dass ich es nicht gemacht hatte, überraschte mich. Enttäuschte mich. Nein, es
beschämte
mich. Ja, das war es: Ich war nicht nur ziemlich durcheinander, sondern schämte mich auch.
    Um drei Uhr herrschte nach wie vor reger Betrieb. Doch trotz der Lutschpastillen hatte ich praktisch keine Stimme mehr. »Du kannst gern gehen«, meinte Harriet und nuckelte an ihrem zigsten Kaffee. »Du hast wirklich mehr als genug getan.«
    »Bist du sicher?«, fragte ich.
    »Ja«, antwortete sie und lächelte eine junge Frau in einem langen roten Mantel an, die soeben eine der letzten noch verbliebenen Schlüsselketten gekauft hatte. Harriet gab ihr das Wechselgeld sowie ihre Einkaufstüte und blickte ihr nach. Sie verschwand im Getümmel. »Das war Nummer fünfzehn«, meinte Harriet ungläubig. »An einem einzigen Tag. Stell dir das vor. Ich sollte dringend heimfahren und eine Nachtschicht einlegen, damit ich mehr machen kann. Aber versteh mich recht: Ich beklage mich nicht, ich bin bloß . . .«
    »Ich hab’s dir prophezeit«, erwiderte ich. »Sie sind einfach superschön.«
    »Und ich muss mich bei dir dafür bedanken. Dein Schlüssel war die entscheidende Anregung.« Sie nahm eine Kette in die Hand, bei der die Ränder des Schlüssels mit grünen Steinen besetzt waren. »Du solltest dir einen aussuchen. Das ist das Mindeste, finde ich.«
    »Nein, danke, nicht nötig.«
    »Doch.« Sie deutete auf das kleine Schmuckgestell.»Aber wenn es dir lieber ist, kann ich auch einen extra für dich anfertigen. Du brauchst es bloß zu sagen.«
    Ich betrachtete erst die Schmuckschlüssel, dann meinen eigenen. »Vielleicht später«, antwortete ich schließlich.

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