About Ruby
allen Fächern solide auf Zwei zu stehen – und das, obwohl ich nachts jobbte und auch sonst außerhalb der Schule ziemlich aktiv war. Jetzt gab es nichts mehr, was mich ablenkte, weder Freunde noch ein Auto, mit dem ich zur Arbeit oder anderswo hinfahren konnte, entsprechend hatte ich viel Zeit zum Lernen; trotzdem kämpfte ich ziemlich mit der Materie. Ich sagte mir zwar immer wieder, es sei egal, ich würde ohnehin nur so lange bleiben, bis ich genügend Geld beisammenhätte, um abzuhauen. Was für einen Sinn hatte es also, sich über Gebühr anzustrengen, damit ich mit dem Stoff hinterherkam? Doch dann saß ich plötzlich in meinem Zimmer, mit nichts Gescheitem zu tun, und was machte ich? Ich schnappte mir meine Bücher, meine Hefte, meine Notizen und legte los. Und sei es bloß, um mich nicht zu langweilen.
Die allgemeine Stimmung an der Perkins Day war ebenfalls anders. Auf der Jackson High zum Beispiel – wo die Cafeteria winzig und entsprechend immer zu voll war, es draußen an geeigneten und damit gern frequentierten Picknicktischen fehlte und sowieso generell eine angespannte,unterschwellig aggressive Atmosphäre herrschte – hatten sich während der Mittagspause immer irgendwelche Dramen abgespielt. Schlägereien, Brüllereien, kleine Raufereien und Streits, die sich so schnell wieder erledigt hatten, wie sie aufgeflammt waren, kaum lang genug dauerten, als dass man sich wirklich die Mühe gemacht hätte, den Kopf zu drehen, um herauszufinden, was da abging. Auf der Perkins Day hingegen lebten sowohl in der Cafeteria als auch auf dem Schulhof alle in friedlicher Koexistenz miteinander; allenfalls am WIR-HELFE N-Tisch ging es gelegentlich etwas höher her, wenn sich nämlich irgendwer wegen irgendetwas zu sehr ereiferte und irgendeine hitzige Diskussion anzettelte. Doch selbst die verliefen in der Regel erstaunlich zivilisiert.
Ach ja, der WIR-HELFE N-Tisch . . . noch so etwas, das ich nicht durchschaute. Jeden Tag, pünktlich zu Beginn der Mittagspause, versammelte sich irgendeine Gruppe bei einem der Tische am Eingang zur Cafeteria und machte daraus ihr vorübergehendes Hauptquartier, indem Schilder aufgehängt und Broschüren ausgelegt wurden, um Werbung für ihr jeweiliges Anliegen zu machen. In meiner kurzen Zeit an der Perkins Day hatte ich bislang schon die diversesten Aktionen für gute Zwecke miterlebt; angefangen damit, dass Unterschriften gegen den Hunger auf der Welt erbeten wurden, bis hin zu einer Büchsensammlung, um für die Kinderstation des örtlichen Krankenhauses einen neuen Giganto-T V-Flachbildschirm anschaffen zu können. Jeden Tag etwas Neues, ein anderes Problem, dem man sich JETZT! widmen muss, wo man SOFORT! und UNBEDINGT! helfen musste, indem man UNTERSCHRIFTEN leistete, oder wo KONKRETES ENGAGEMENT gefragt war, denn SELBST ANPACKEN IST DAS MINDESTE, WAS MAN TUN KANN.
Nicht, dass ich ein herzloser Mensch gewesen wäre und bar jeglichen Mitgefühls. Sich für andere einzusetzen, zu spenden, wohltätige Sachen für die Allgemeinheit zu tun – das fand ich alles genauso angebracht und gut wie wohl jeder. Doch nach allem, was ich in den letzten Monaten mitgemacht hatte, hatte ich einfach keinen Kopf für die Sorgen anderer. Meine Mutter hatte mir nur allzu gründlich beigebracht, sich um die Nummer eins zu kümmern, nämlich um sich selbst; außerdem schien mir genau das, gerade jetzt und hier, das Vernünftigste und Klügste, was ich in dieser fremden Umgebung, in der ich unfreiwillig gelandet war, tun konnte. Trotzdem fühlte ich mich von all den Bedürfnissen und Nöten, die bei meinem täglichen Gang am WIR-HELFE N-Tisch vorbei auf mich einströmten, auf eigenartige Weise verunsichert, ganz zu schweigen von der nahezu überwältigenden Hilfsbereitschaft, die augenscheinlich erwartet und mit der auf alle diese Themen – Streng dich an, nimm teil am Anti-Aids-Walk! Kauf einen Keks im Kampf gegen den Analphabetismus! Rettet die Tiere! – tatsächlich reagiert wurde. Was für meine Mitschüler offenkundig und auf eine intuitive Weise genauso normal war wie für mich, mich instinktiv bedeckt zu halten und zurückzuziehen.
Zu den großzügigsten, freigiebigsten Menschen an der Schule gehörte eindeutig Heather Wainwright, die sich eigentlich immer am WIR-HELFE N-Tisch tummelte, egal, um welchen guten Zweck es ging. Ich hatte an drei Tagen hintereinander jeweils mitbekommen, wie sie einer Eis lutschenden Gruppe von Mädchen einen Vortrag über die missliche
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