Abraham Lincoln - Vampirjäger
aufgeschlitzt worden waren. Ein Junge, der sich die Löcher hielt, in denen einen Moment zuvor noch seine Augen waren. Einem Gefreiten keine drei Yards vor mir wurde das Gewehr entrissen. Ich stand nah genug, um sein Blut in mein Gesicht spritzen zu spüren, als ihm mit dem Kolben der Schädel eingeschlagen wurde. Nah genug, um seinen Tod auf meiner Zunge zu schmecken.
Unsere Linien brachen auf. Ich schäme mich nicht, zu sagen, dass ich mein Gewehr fallen ließ und mit den anderen die Flucht antrat, Melissa. Die Rebellen setzten uns nach, holten meine Kameraden ein und attackierten sie zu beiden Seiten von mir. Ihre Schreie verfolgten mich noch auf dem Weg den Hügel hinab.
Ähnliche Berichte trafen zuhauf von McDowells Kommandanten ein. »Nun«, soll er Gerüchten zufolge gesagt haben (als er erfuhr, dass die Truppen der Union auf ganzer Linie im Rückzug begriffen waren), »wir haben die bessere Armee mitgebracht, aber es scheint, sie haben die besseren Männer.« McDowell hatte keine Ahnung, dass diese »besseren Männer« überhaupt keine Männer waren.
Die Schlacht dauerte bloß ein paar Stunden. Als der Schießpulverqualm sich verzogen hatte, waren mehr als tausend Männer tot und weitere dreitausend schwer oder gar lebensbedrohlich verwundet. Aus dem Tagebuch von Generalmajor der Union Ambrose Burnside:
In der Dämmerung ritt ich an einem kleinen Teich vorbei und sah, wie sich Männer ihre Wunden auswuschen. Das Wasser hatte sich rot gefärbt – doch das hielt die Verzweifelten nicht davon ab, es zu trinken, wenn sie ans Ufer gekrochen waren. Ganz in der Nähe davon erblickte ich einen Rebellenjungen, der von einer Granate getroffen worden war. Nur seine Arme, die Schultern und der Kopf waren noch von ihm übrig – die Augen weit aufgerissen und ausdruckslos. Eine Bussardschar hatte sich um ihn versammelt und hackte mit ihren Schnäbeln in seinen Eingeweiden herum. Sie pickten nach den Fetzen seines Hirns, die überall am Boden verteilt lagen. Ein Anblick, der mich wohl nie wieder loslassen wird.
Und doch habe ich Hunderte solcher Gräuel an diesem Tage gesehen. Man hätte eine Meile in jede Richtung laufen können, ohne mit den Füßen auch nur einmal den Boden zu berühren – so viele Leichen lagen herum. Auch jetzt noch, während ich diese Zeilen schreibe, höre ich die Schreie der Verwundeten. Die um Hilfe flehen. Um Wasser. In manchen Fällen sogar darum zu sterben.
Ich fürchte die Hölle nicht mehr, denn an jenem Tage habe ich sie mit eigenen Augen geschaut.
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Nach der Schlacht am Bull Run verfiel der Norden in einen Zustand von Schock und tiefer Trauer.
Hätte ich doch nur auf Douglas gehört! Auf McDowell! Hätte ich bloß mehr Männer einberufen und ihnen mehr Zeit gelassen, sich auf den Einsatz vorzubereiten – dann wäre dieser Krieg vielleicht schon vorbei, und das Leiden und der Tod von Tausenden wäre verhindert worden. Jetzt ist klar, dass der Süden wild entschlossen ist, die Unterzahl ihrer Truppen zu kompensieren, indem sie Vampire auf die Schlachtfelder schicken. Sei’s drum. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mit meiner Axt Vampire zu jagen. Jetzt werde ich eben noch eine Weile länger damit zubringen, sie mit meiner Armee zu jagen. Wenn dies ein langer, verlustreicher Kampf wird, dann müssen wir eben unsere Entschlossenheit verdoppeln, ihn zu gewinnen.
Einmal aus dem Schockzustand erwacht, nahm sich der Norden ein Beispiel an seinem Präsidenten und stellte sich auf die Hinterbeine. Scharenweise kamen die Männer, um sich zu verpflichten, und die Bundesstaaten sagten neue Regimenter und Verpflegung zu. Am 22. Juli 1861, der Tag, an dem er den Einberufungsbefehl für eine Truppe von fünfhunderttausend Mann unterzeichnete, notierte Abraham Lincoln auch eine Vorahnung in sein Tagebuch.
Lasst uns schon jetzt für die kommenden Toten beten. Auch wenn wir ihre Namen noch nicht kennen, so wissen wir doch, dass ihre Zahl viel zu groß sein wird.
III
Für den Präsidenten und sein Kabinett war es ein bitterer und entmutigender Winter gewesen. Angesichts zugefrorener Flüsse und von Straßen, die in Schlamm und Schnee versanken, blieb den beiden Armeen nichts anderes übrig, als das Feuer am Schwelen zu halten und auf das Tauwetter zu warten. Am 9. Februar 1862, an Abes dreiundfünfzigstem Geburtstag, gab es endlich die ersten Anzeichen des Frühlings. Abe befand sich zu diesem Zeitpunkt in seinem Büro.
Ich habe soeben die Nachricht von [General Ulysses S.] Grants
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