Abraham Lincoln - Vampirjäger
Buch immer in der linken Hand gehalten und ihm mit der rechten über das dunkle Haar gestrichen, bis er auf ihrem Schoß eingeschlafen war. Ihr Gesicht war das erste gewesen, das ihn begrüßt hatte, als er auf die Welt kam. Er hatte nicht geschrien. Er hatte sie einfach nur angesehen und gelächelt. Für ihn war sie Liebe und Licht. Und nun war sie fort. Abe weinte um sie.
Abb. 12b – Der junge Abe steht vor dem Grab seiner Mutter; eine Gravur aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert mit dem Titel » Racheschwur «.
Kaum war sie begraben, beschloss Abe, von zu Hause wegzulaufen. Der Gedanke, mit seiner elfjährigen Schwester und dem von Gram gebeugten Vater in Pigeon Creek zu bleiben, war mehr, als er ertragen konnte. Seine Mutter war noch keine sechsunddreißig Stunden tot, da wanderte der neunjährige Abe Lincoln bereits durch die Wildnis von Indiana und trug alle seine dürftigen Habseligkeiten in eine Wolldecke gehüllt bei sich. Sein Plan war bestechend einfach. Er hatte vor, bis zum Ohio River zu laufen. Dort angekommen, wollte er einen Fährmann bitten, ihn auf seinem Lastkahn mitzunehmen, bis zum Mississippi. Dann würde er weiter nach New Orleans fahren, und von dort aus könnte er als blinder Passagier überallhin gelangen.
Vielleicht würde er es bis nach New York schaffen oder nach Boston. Vielleicht würde er sogar mit dem Segelschiff nach Europa gelangen, um die unvergänglichen Kathedralen zu sehen und all die Schlösser, die er sich schon so oft in seiner Fantasie ausgemalt hatte.
Wenn sein Plan Schwächen aufwies, dann allenfalls den Zeitpunkt seines Aufbruchs betreffend. Abe entschloss sich, sein Zuhause nachmittags zu verlassen, und schon nachdem er vier Meilen zurückgelegt hatte, ging der kurze Wintertag zur Neige und die Dunkelheit brach herein. Umgeben von ungezähmter Wildnis, mit nichts als einer Wolldecke und einer Handvoll Essen ausgerüstet, zögerte Abe, setzte sich an einen Baumstamm und fing an zu schluchzen. Er war mutterseelenallein in der Dunkelheit und hatte Heimweh nach einem Ort, den es nicht mehr gab. Er sehnte sich nach seiner Mutter. Er sehnte sich danach, das Haar seiner Schwester im Gesicht zu spüren, wenn er an ihrer Schulter weinte. Und zu seiner eigenen Überraschung sehnte er sich sogar nach der Umarmung seines Vaters:
Ein leiser Schrei drang durch die Nacht – der langgezogene Schrei eines Tieres, der um mich herum hallte. Sofort musste ich an die Bären denken, die unser Nachbar Reuben Grigsby zwei Tage zuvor in der Nähe der Bucht gesehen hatte, und ich fühlte mich wie ein Tölpel, weil ich nicht einmal ein Messer mitgenommen hatte. Dann hörte ich einen weiteren Schrei und noch einen. Es hörte sich an, als kämen sie aus allen Richtungen, und je länger ich ihnen lauschte, umso klarer wurde, dass sie weder von Bären noch von Panthern oder irgendeinem anderen Tier herrührten. Sie klangen anders. Nach menschlichen Stimmen. Mit einem Male begriff ich, was ich da hörte. Ohne mich um meine Habseligkeiten zu kümmern, sprang ich auf und rannte, so schnell mich meine Füße tragen konnten, nach Hause zurück.
Es waren menschliche Schreie.
ZWEI
ZWEI GESCHICHTEN
Da wir unseren Kurs nun gewählt haben, ohne Arg, aber voll Entschlossenheit, lasst uns unser Vertrauen in Gott erneuern und mit mannhaften Herzen furchtlos vorwärtsstreben.
Abraham Lincoln in einer Kongressansprache am 4. Juli 1861
I
Falls Thomas Lincoln je versucht haben sollte, seine Kinder nach dem Tod der Mutter zu trösten – falls er sie je gefragt haben sollte, was sie fühlten, oder ihnen seinen eigenen Kummer gezeigt hatte – , dann fand dies nirgends Erwähnung. Es scheint so, als sei er in den Monaten nach der Beerdigung in fast völliges Schweigen versunken. Er stand vor Tagesanbruch auf, machte sich Kaffee und stocherte in seinem Frühstück herum. Danach arbeitete er, bis die Nacht hereinbrach, und betrank sich (leider allzu oft) bis zur Besinnungslosigkeit. Nur während eines kurzen Tischgebets vor dem Abendessen hörten Abe und Sarah seine Stimme.
Vater, alle Gaben, alles, was wir haben,
alle Frucht im weiten Land,
ist Geschöpf in Deiner Hand.
Hilf, dass nicht der Mund verzehret,
ohne dass das Herz auch ehret,
was uns Deine Hand bescheret.
Amen
Aber bei all seinen Fehlern verfügte Thomas Lincoln über etwas, das man als gesunden Menschenverstand bezeichnen könnte. Er wusste, dass seine Situation unhaltbar war. Er wusste, dass er nicht in der Lage war, sich allein um
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