Abraham Lincoln - Vampirjäger
hochgewachsen. Er war bereits von ebensolch stattlichem Wuchs wie sein Vater, der mit einem Meter fünfundsiebzig selbst als groß galt. Wie seinen unglücklichen Großvater hatten auch ihn gute Gene und Jahre der Plackerei außergewöhnlich stark werden lassen.
Es war an einem Montag, an »einem Sommertag, den es so nur in Kentucky gibt – strahlend und sattgrün; eine sanfte Brise trug warme Luft und Löwenzahnsamen herüber«. Abe und Thomas befanden sich auf dem Dach eines ihrer kleineren Nebengebäude und reparierten das vom Winter recht mitgenommene Dach. Sie arbeiteten schweigend vor sich hin. Obwohl sich sein Hass wieder gelegt hatte, fiel es Abe noch immer schwer, die Anwesenheit seines Vaters zu ertragen. Ein Tagebucheintrag vom 2. Dezember 1843 (kurz nach der Geburt von Abes eigenem Sohn Robert) wirft ein interessantes Licht auf die Verachtung, die er dem Vater gegenüber empfand.
Das Alter hat mich in vielerlei Hinsicht milde werden lassen, aber in einem Punkt bleibe ich unerbittlich. Seine Schwäche! Seine mangelnde Tüchtigkeit! Die Tatsache, dass er versagt hat, als es galt, seine Familie zu beschützen. Nur an seine eigenen Bedürfnisse dachte und andere ihrem Schicksal überließ. Wenn er nur mit uns in irgendein weit entferntes Gebiet geflohen wäre. Hätte er doch bloß all unsere Nachbarn gebeten, ihm kleine Beträge gegen zukünftige Hilfstätigkeiten vorzustrecken. Aber er hatte nichts dergleichen getan. Nichts, als untätig herumzusitzen. Schweigend. Insgeheim hoffend, dass sich seine Probleme irgendwie, durch irgendein Wunder einfach in Luft auflösen würden. Nein, man kann es drehen und wenden, wie man will: Wäre er ein anderer gewesen, wäre sie noch heute bei mir. Und das kann ich ihm niemals verzeihen.
Thomas, das muss man ihm zugutehalten, schien die Ächtung durch den Sohn zu verstehen und zu akzeptieren. Das Wort »Vampir« hatte er seit jener Nacht am Feuer nie wieder erwähnt. Auch drängte er Abe nicht dazu, mit ihm darüber zu sprechen.
Sarah hatte die Mädchen an jenem Montagnachmittag mit zu Mr. Gregson genommen, wo sie ihr beim Saubermachen halfen, und John war wieder einmal draußen unterwegs, um irgendeinen imaginären Krieg auszufechten. Die beiden Lincoln-Männer waren dabei, das Dach auszubessern, als sich ein Pferd mit einem Kind im Sattel näherte. Ein feistes Kind in einem grünen Mantel. Oder war es ein sehr kleiner Mann? Ein kleiner Mann mit einer dunklen Brille und … nur einem Arm.
Es war Jack Barts.
Thomas legte den Hammer aus der Hand, sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er sich fragte, was Barts wohl wollte. Nachdem er das Dach hinuntergeklettert war und auf den unerwarteten Gast zuging, war Abe bereits auf halbem Wege ins Wohnhaus der Lincolns. Barts reichte Thomas seine Zügel und saß mit einiger Mühe ab, indem er sich am Sattelknauf festhielt und seine stämmigen Beinchen zappelnd festen Boden suchten. Als es ihm endlich gelungen war, fingerte er einen Fächer aus seiner Manteltasche und fing an, sich Luft zuzuwedeln, um die glühenden Wangen etwas zu kühlen. Thomas kam nicht umhin, zu bemerken, dass sich keine einzige Schweißperle auf seiner Stirn zeigte.
»Einfach grässlich … diese grässliche, elendige Hitze.«
»Mr. Barts, ich … «
»Ich muss zugeben, dass Ihr Brief eine Überraschung für mich war, Mr. Lincoln. Eine erfreuliche Überraschung, um genau zu sein. Aber dennoch eine Überraschung.«
»Mein Brief, Mr. Ba…?«
»Hätten Sie ihn früher geschrieben, vielleicht wären die Unstimmigkeiten, die zwischen uns herrschten, zu vermeiden gewesen. Schrecklich … eine schreckliche Sache … «
Thomas war zu verwirrt, um Abe zu bemerken, der mit einem langen hölzernen Etwas auf sie zukam.
»Sie entschuldigen meine Eile«, fuhr Barts fort, »aber ich muss leider gleich wieder weiter. Mich erwarten dringende Geschäfte in Louisville, denen ich noch vor heute Abend nachkommen muss.«
Thomas brachte kein Wort über die Lippen. Kein elendiges Wort.
»Nun, Mr. Lincoln, haben Sie es?«
In diesem Moment trat Abe mit einer länglichen, handgeschnitzten Kiste mit aufklappbarem Deckel zu ihnen. Ein winziger Sarg für einen schmächtigen Körper. Er stellte sich neben seinen Vater und wandte sich Barts zu. Er überragte den Besucher um Längen. Starrte ihn an.
»Seltsam«, sagte er schließlich und brach damit das Schweigen. »Ich hatte Sie nicht tagsüber erwartet.«
Nun war es Barts, der verwirrt schien.
»Wer ist dieser
Weitere Kostenlose Bücher