Abraham Lincoln - Vampirjäger
dies war die Gelegenheit, auf die er vier lange Jahre voll Ungeduld gewartet hatte. Die Gelegenheit, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Seine Waffen zu testen. Die Gelegenheit, das Hochgefühl zu spüren, erneut einen Vampir zu seinen Füßen sterben zu sehen.
Es gab weitaus fähigere Fährtenleser als Abraham Lincoln. Männer, die über weitaus mehr Wissen über den Ohio River verfügten. Aber es gab wohl kaum ein anderes menschliches Wesen in ganz Kentucky oder Indiana, das über ein fundierteres Wissen, was das rätselhafte Verschwinden von Menschen oder ungeklärte Morde betraf, verfügte.
Als ich die Beschreibung der Leichen in Jeffersonville vernahm, wusste ich sogleich, dass nur ein Vampir dafür verantwortlich sein konnte, und ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wohin er unterwegs war. Ich erinnerte mich, von einem ganz ähnlichen Falle in Dugres Die Geschichte des Mississippi gelesen zu haben, der die dortigen Siedler rund fünfzig Jahre zuvor in Atem gehalten hatte. In kleinen Städtchen entlang des Flusses – von Natchez bis Donaldsonville – waren Kinder über Nacht aus ihren Betten verschwunden. Die Vorfälle hatten im Norden begonnen und sich immer weiter gen Süden fortgesetzt. Die Leichen hatte man immer gruppenweise und stark verwest aufgefunden. Erstaunlicherweise wies keines der toten Kinder schlimmere Verletzungen auf als kleine Wunden an den Gliedmaßen. Ich hätte wetten können, dass genau wie der Vampir damals auch dieser wieder mit dem Strom südwärts zog. Außerdem traute ich mich zu wetten, dass er sich auf einem Boot befand. Und wenn dem so war, dann würde er früher oder später nach Evansville gelangen.
Dort lag Abe dann auch in der Nacht vom Donnerstag, den 30. Juni 1825, auf der Lauer, verborgen im Gestrüpp der Uferböschung des Ohio Rivers.
Glücklicherweise war Vollmond, so dass in jener Nacht jedes Detail gut sichtbar war … der leichte Nebel, der über der Flussoberfläche hing, die Tautropfen auf den Blättern meines Verstecks, die Umrisse der schlafenden Vögel in den Ästen der Bäume und der Kahn, der keine dreißig Yards von mir entfernt vertäut lag. Er unterschied sich in nichts von den anderen kleinen Barken, denen man überall am Fluss begegnete: vierzig mal zwölf Fuß groß, aus groben Holzplanken gebaut; fast der gesamte Raum des Decks wurde von einem überdachten Wohnbereich eingenommen – und dennoch ließ ich genau dieses Boot nun schon seit Stunden nicht aus den Augen, denn ich war mir sicher, dass dort ein Vampir an Bord war.
Abe hatte Tage damit verbracht, die gelegentlich in Evansville vor Anker gehenden Kähne zu beobachten. Aufmerksam hatte er jeden gemustert, der an Land ging, immer Ausschau haltend nach einem der verräterischen Anzeichen, über die er so viel gelesen hatte, wie blasse Haut, das Meiden von Tageslicht oder eine Furcht vor Kreuzen. Er hatte sogar einige »verdächtige« Bootsmänner verfolgt, während diese ihren Geschäften in der Stadt nachgingen. Doch keine seiner Beschattungen hatte etwas ergeben. Am Ende war es eben der Kahn, der nicht anlegte, der seinen Verdacht weckte.
Ich war nahe daran gewesen, mein Vorhaben aufzugeben. Die Sonne war schon fast untergegangen, und Boote, die sich jetzt noch weiter flussaufwärts befanden, würden für die Dauer der Nacht dort vor Anker gehen. Und dann sah ich es. Die Umrisse eines Kahns, der – fast unsichtbar in der Dunkelheit – vorbeitrieb. Es war seltsam, dass ein Boot an einer der geschäftigsten Städte in diesem Flussabschnitt vorüberfuhr, ohne vor Anker zu gehen. Und noch seltsamer war, dass es nachts geschah.
Abe rannte am Ufer entlang, wild entschlossen, dem seltsamen Boot, das, so weit er dies sehen konnte, von niemandem gesteuert wurde, so lange wie irgend möglich zu folgen.
Starke Regenfälle hatten den Strom schneller werden lassen, und ich hatte Mühe, Schritt zu halten. Der Kahn entfernte sich immer mehr, und als er dann auch noch hinter einer Flussbiegung verschwand, fürchtete ich bereits, ihn verloren zu haben.
Aber nach einer halbstündigen Verfolgungsjagd holte Abe ihn wieder ein. Das Boot hatte auf seiner Flussseite außerhalb der Stadt angelegt, eine schmale Planke führte vom Deck aus ans Ufer. Er versteckte sich in sicherer Entfernung davon und begann seine Nachtwache. Stunden voll Hunger und Erschöpfung folgten, aber Abe hielt seinen Posten, fest entschlossen, das Boot keinen Moment lang aus den Augen zu lassen.
Ich hatte so lange
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