Abraham Lincoln - Vampirjäger
Gehen.
Die weißen Männer hatten sich am Eingang versammelt. Einer überreichte dem Gastgeber etwas (ich gehe davon aus, dass es sich dabei um Geldscheine handelte) und trat an die Sklaven, die in Reih und Glied dastanden, heran. Ich sah, wie er vor ihnen auf und ab ging und jeden Einzelnen eingehend betrachtete. Schließlich blieb er hinter einer älteren, fülligen Frau stehen und wartete. Einer nach dem anderen überreichten nun auch die anderen Herren dem Gastgeber ihren Tribut, nahmen die verbleibenden Sklaven in Augenschein und wählten jeweils einen aus, hinter dem sie sich aufstellten, bis alle neun Gäste ihren Platz gefunden hatten. Die Neger wagten nicht, sich zu ihnen umzudrehen. Sie blickten starr vor sich zu Boden. Nachdem neun der Sklaven vergeben waren, führte der große Neger mit der Peitsche die restlichen drei hinaus in die Dunkelheit. Was aus diesen armen Seelen wurde, kann ich nicht sagen. Ich kann einzig von der Sorge sprechen, die mich befiel, als sie weggebracht wurden – denn irgendetwas braute sich da zusammen. Was es war, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass es entsetzlich sein würde.
Abe sollte Recht behalten. Sobald die drei übrigen Sklaven außer Hörweite waren, stieß der graubärtige Gastgeber einen Pfiff aus. Auf dieses Zeichen hin wurden neun Augenpaare auf einen Schlag zu schwarzen Murmeln, aus neun Mündern traten Fänge hervor, und neun Vampire machten sich von hinten über ihre hilflose Beute her.
Der erste Vampir packte den Kopf der dicken Frau und drehte ihn ruckartig nach hinten – seine schreckliche Fratze traf ihren sterbenden Blick. Eine andere Sklavin schrie verzweifelt auf und wand sich, als sie die Fänge in ihrem Hals spürte. Doch je mehr sie sich wehrte, desto tiefer vergrub sich der Vampir in ihr Fleisch und desto unaufhaltsamer floss ihr Blut in den Mund der grausigen Kreatur. Ich wurde Zeuge, wie einem Jungen der Schädel eingeschlagen wurde, dass sein Gehirn nur so herausspritzte, und einem Mann der Kopf gleich ganz abgerissen wurde. Ich konnte nichts tun, um ihnen zu helfen. Es waren einfach zu viele, und ich war unbewaffnet. Der Sklavenhalter schob in aller Selenruhe die Scheunentür zu, damit die Geräusche des Todes nicht weiter nach draußen drangen, und ich stürmte mit tränennassem Gesicht in die Nacht. Angewidert von meiner eigenen Hilflosigkeit. Angeekelt von dem, was ich hatte mit ansehen müssen. Aber mehr noch als alles andere graute es mir vor der Wahrheit, die langsam in meinem Kopf Gestalt annahm. Eine Wahrheit, vor der ich zuvor die Augen verschlossen hatte.
S
Am nächsten Tag kaufte sich Abe in der Dauphine Street ein neues Tagebuch mit schwarzem Ledereinband. Zwar sollte der erste Eintrag mit lediglich sechzehn Worten recht knapp ausfallen, aber gleichzeitig ist er eine eindringliche Stellungnahme zu dieser neu gewonnenen Wahrheit und einer der wichtigsten Sätze, die Abraham Lincoln jemals verfasste.
25. Juni 1828
So lange in diesem Land Sklaverei herrscht, so lange wird es auch mit Vampiren geschlagen sein.
TEIL II
DIE ZEIT ALS VAMPIRJÄGER
FÜNF
NEW SALEM
Ein junger Mann kann es nur zu etwas bringen, wenn er sich in allen Bereichen stetig bessert und niemals einen Gedanken daran verschwendet, dass ihn jemand daran hindern könnte.
Abraham Lincoln in einem Brief an William Herndon
vom 10. Juli 1848
I
Abe zitterte am ganzen Leibe.
Es war eine bitterkalte Februarnacht, und er wartete bereits seit fast zwei Stunden darauf, dass ein Mann sein Schäferstündchen beenden würde. Abe tigerte im festgetretenen Schnee auf und ab … auf und ab und spähte von Zeit zu Zeit zu dem sich noch immer im Bau befindlichen Gerichtsgebäude auf der anderen Seite des Platzes hinüber und zum zweiten Stock des Saloons auf der anderen Straßenseite, wo in einem der Fenster noch immer die Laterne einer Hure brannte. Er vertrieb sich die Zeit mit Gedanken an die Wochen, in denen er, ohne ein Hemd am Leib, in drückender Hitze auf dem Lastkahn den Mississippi heruntergeschippert war. »Eine Hitze, in der man ertrinken konnte.« Er dachte zurück an Vormittage, da er im Schatten Holz hackte, an Nachmittage, an denen er sich bei einem Bad in der Bucht Abkühlung verschaffte. Doch all diese Erinnerungen lagen mittlerweile über drei Jahre und zweihundert Meilen zurück. Und in dieser Nacht, sein zweiundzwanzigster Geburtstag, stand er frierend in den menschenleeren Straßen von Calhoun, Illinois. 15
15 Im darauffolgenden Jahr sollte die Stadt in
Weitere Kostenlose Bücher