Abraxmata
Gedanken verwischte, verschwand nach einer weiteren langen Marschzeit und verwandelte sich in ein anderes Gefühl, das noch viel schlimmer war. Murus war einfach nur schlecht und zwar so schlecht, dass er an nichts anderes mehr denken konnte. Er kam jetzt nur noch sehr, sehr langsam voran, fiel ständig vornüber hin, rappelte sich dann wieder hoch, knickte im Fußgelenk um, wobei er gar nicht mehr aufschrie. Er fühlte sich wie in einem Traum, dass er nichts sah, kam ihm vor, als wäre er nicht in der Realität. Schließlich verwandelte sich das helle Grau doch noch in ein dunkles Nachtschwarz, als Murus ohnmächtig wurde und einfach zusammenklappte.
Wie ein sanfter Schleier benetzte etwas seine Lippen. Mit seiner langen, dünnen Zunge nahm er das Wasser auf, wobei ihm jeder einzelne Tropfen wie eine Kraftperle vorkam, die ihm geschenkt wurde. Als er sich aufraffen wollte, merkte er, dass er in seinen Beinen, seinen Armen sowie seinen Flügeln kein Gefühl mehr hatte.
»Wie kann man nur so blöd sein, sich im weißen Kabinett von Kismet auf den Boden zu legen«, hörte er eine leise Stimme, und es kam ihm vor, als käme auch diese Stimme irgendwo aus einem Traum, von ganz weit weg. Er öffnete die Augen, in die ein blasslila, fast weißes Licht eindrang. »Na endlich schlägst du mal die Augen auf, ich dachte schon, das wird nie mehr was mit dir.« Die Stimme klang nun schon sehr viel deutlicher und klarer.
Langsam zeichneten sich vor seinen benebelten Augen erste Konturen des Wesens ab, das vor ihm stand. Es hatte ein bisschen Ähnlichkeit mit einem Gilko, war jedoch mindestens dreimal so groß und Flügel konnte Murus auch nicht erkennen. Ein Leuchten, aber kein blendendes, unangenehmes, schien von dem Geschöpf auszugehen. Murus konnte die Hand, die seinen Augen am nächsten war, erkennen. Es war eine sehr schmale Hand mit dünnen, langen Fingern, durch die ein dünner goldener Faden geflochten war. Murus fand, dass diese Hand eine unbeschreibliche Anmut und Grazie verkörperte. Die langen Haare des Wesens fielen wie ein Wasserfall über dessen schmale Schultern. Das Lächeln auf dem Gesicht des Wesens beruhigte Murus ungemein. Er ließ seinen Blick auf die Füße des Wesens gleiten, durch die ebenfalls kunstvoll ein Goldfaden gezogen war, der jede der acht Zehen einzeln umschloss und schmückte.
»Ich bin Tosjea«, sagte die Stimme, und Murus spürte den fragenden Blick auf ihrem Gesicht.
»Ich bin Murus«, säuselte er.
»Du hast Glück, dass ich dich gefunden habe. Alleine wärst du hier mit Sicherheit nicht wieder herausgekommen. Wenn ich nicht durch Zufall am Rande des weißen Kabinetts gewesen wäre und dein Stöhnen gehört hätte …«, sagte Tosjea.
»Wo bin ich?«, fragte Murus, und Tosjea schien ihm anzusehen, dass er die Antwort auf seine Frage eigentlich gar nicht hören wollte.
»Du bist in Kismet«, antwortete sie.
Murus wollte sich aufrappeln, um dem Wesen, seiner Schönheit gebührend, gegenüber zu stehen, strauchelte aber sofort mit seinen gefühllosen Gliedern und fiel zurück auf den Boden.
»Also, so kommst du bestimmt nicht wieder hoch. Es wird einige Stunden dauern, in denen du darauf hintrainieren musst, wieder aufstehen zu können. Hoffentlich geht es überhaupt so, wie ich mir das vorstelle. Bis jetzt habe ich nur Leuten geholfen, die erst wenige Stunden auf dem weißen Boden gelegen haben, und nicht wie du zwei Tage«, belehrte sie ihn.
»Zwei … zwei Tage?«, stotterte Murus.
»Das wundert mich nicht. Wer ohne Essen und Trinken wie ein Irrer tagelang im Kreis herumläuft, muss ja so enden. Es wundert mich sowieso, dass du so lange durchgehalten hast. Die meisten fallen viel schneller irgendwann tot um«, antwortete Tosjea.
Murus sah jetzt völlig verstört aus. So viele Fragen brannten ihm auf den Lippen, und er wusste überhaupt nicht, womit er anfangen sollte. »Wie lange genau bin ich herumgeirrt?«, fragte er schließlich.
»Das kann ich dir nicht exakt sagen. Ich bilde mir ein, schon mal etwas vor vier Tagen von dir gehört zu haben, aber gefunden habe ich dich erst vorgestern. Da lagst du aber schon auf dem Boden«, gab sie zu.
»Gibt es hier noch mehr Wesen außer dir? Ich habe nirgends auch nur einen Grashalm gesehen, auch keine Leichen von Verdursteten, wie du gesagt hast.«
»Das liegt daran, dass der Boden alles, was das Kabinett getötet hat, sofort in sich aufsaugt und verschwinden lässt. Es ist vor allem die Leere und Regelmäßigkeit des Kabinetts, die
Weitere Kostenlose Bücher