Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
Schmerz weggefressen hatte. Es regnete nicht mehr so stark, und er trat unter dem Vordach der Bratwurstbude hervor. Es war ihm schlecht, und er spuckte mehrfach aus. Immer noch trug er den Plastikbeutel mit den neuen Sandalen. Er hatte das Gefühl, den Mund voller Unrat zu haben, und im Augenblick war er sogar davon überzeugt, aus dem Mund zu riechen. Noch einmal machte er im Mundinnenraum einige absaugende Bewegungen und spuckte alles aus. Nachdem ihn der Schmerz leergemacht hatte, ging er dazu über, ihn zu betäuben. Eine unerhörte Müdigkeit kam über ihn. Abschaffel wollte sich einschläfern, und es fiel ihm auch gleich ein, wie er sich auf einfache Weise einschläfern konnte. Wenn er gewußt hätte wie man heult, hätte er es jetzt getan. Er wollte in ein Lokal gehen, das ihm nicht gefiel, dort irgend etwas essen, was ihm nicht schmeckte und zuviel für ihn war, ein oder zwei große Biere dazu trinken, die seine Augenlider von alleine niederzogen, und dazu in einer Zeitung zwei oder drei Artikel lesen, die ihn nicht interessierten. Nach höchstens einer Dreiviertelstunde würde er dann so weit sein, daß er sogar auf einem harten Stuhl sitzend einschlafen konnte. Schon war er auf dem Weg. Er wollte in das schlechte jugoslawische Restaurant gehen, in dem er noch vor kurzem mit Margot hatte essen wollen. Er lief schnell, leicht und eng an den Häuserwänden entlang. Er vermied Unterführungen; er wollte keine Treppen herunter- und keine Treppen hochgehen, und er wollte kein künstliches Licht in langen Fußgängertunnels sehen. Nicht weit weg von dem jugoslawischen Restaurant sah er neben einer Bank eine nasse Zeitung auf dem Boden liegen. Mit einem Papiertaschentuch wischte er eine Ecke der Bank halbwegs trocken und setzte sich so auf die Bank, daß er die Zeitung am Boden lesen konnte. Allerdings mußte er sich bücken, damit er die Buchstaben auf dem vollgesaugten und leicht verdunkelten Zeitungspapier lesen konnte. Er war überzeugt, daß ihm jede Art von Verlorenheit nun zustand, und das Lesen in einer nassen, am Boden liegenden Zeitung schien ihm eine angemessene Geste des Schmerzes und der Müdigkeit zu sein. Rasch erhob er sich wieder und ging weiter. Er wollte nicht jemand sein, der einfach weiterging, weil es ihn kränkte, daß er seinen schlechten Zustand nicht ausdrücken konnte. Er versuchte, an einer Straßenbahnhaltestelle stehenzubleiben und so zu tun, als wartete er auf die Straßenbahn. Er wollte warten, bis die Bahn kam, dann aber nicht einsteigen, sondern die Leute hinter den Scheiben ansehen. Es kam nicht dazu, weil ihn sein eigenes Bedürfnis nach Ausdruck des Schmerzes schon wieder langweilte. Seine ganze Hoffnung setzte er auf das jugoslawische Restaurant. Er wollte sich mit allen Peinlichkeiten und Fehlern dieses Lokals verbinden und glauben, daß es ein Lokal für Personen sei, die nicht weitermachen wollten. An einem Kiosk kaufte er sich eine Zeitung; vor ihm wurde eine ältere Frau bedient, die zwei Rätselzeitschriften, eine Frauenillustrierte, eine Fernsehprogrammzeitschrift und eine Zeitschrift mit dem Titel FREIZEIT-REVUE erhielt. Schläferte sich diese Frau gleich ein ganzes Wochenende lang ein? Offenbar war die Frau eine Stammkundin des Zeitschriftenverkäufers. Sie mußte gar nicht sagen, welche Zeitschriften sie wollte. Der Verkäufer reichte ihr den Packen mit einer aufmunternden Bemerkung über die Theke.
    Das jugoslawische Restaurant war halbleer wie immer. Abschaffel setzte sich an einen Tisch am Fenster und schlug die Zeitung auf. Gleich erschrak er über eine Überschrift. RIESENSCHULD WÄCHST TÄGLICH war da zu lesen. Einen Augenblick lang dachte er, es handle sich um einen Artikel über die Gesamtschuld seines bisherigen Lebens, die einem Reporter endlich aufgefallen war. Deswegen wollte er den Artikel nicht lesen. Wenig später wurde ihm klar, daß niemandes persönliche Schuld gemeint war; die finanziellen Schulden des Staates waren gemeint, kleiner gedruckt stand es auch darunter, aber warum überschrieb die Zeitung ihren Bericht dann nicht mit RIESENSCHULDEN WACHSEN TÄGLICH? Dann hätte jeder sofort erkennen können, daß nicht seine persönliche Schuld gemeint war. Aber wahrscheinlich arbeitete in der Zeitung ein tückischer Angestellter, dachte Abschaffel, der es darauf anlegte, Leute wie ihn zu erschrecken.
    Er legte die Zeitung weg und wartete, bis der Ober kam. Das Lokal war nicht nur schlecht, sondern barg viel verstecktes Unglück und Pein in sich. Es fing

Weitere Kostenlose Bücher