Abschaffel
Umgebung wissen zu lassen, was er endlich wieder einmal getan hatte. Und viele Lehrlinge schliefen sich tatsächlich morgens aus. Aber es war entsetzlich für sie, dafür einen hinausgeschobenen Feierabend hinnehmen zu müssen. Und rasch kehrten fast alle, von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, zur alten Regelung zurück: pünktlicher Arbeitsbeginn und pünktlicher Feierabend. Was aber für alle übrigblieb, waren die Nachteile. Beim Verlassen des Betriebs mußte jeder vor den Augen des Pförtners seine Steckkarte in den Apparat stecken. Jedes, auch ein kurzes Fernbleiben eines Angestellten von seinem Arbeitsplatz ging ab sofort auf seine eigene Rechnung. Früher, ohne Gleitzeit, gehörte es zu den höheren Befriedigungen, den Betrieb mit vorgetäuschten Gründen stundenweise zu verlassen. Besonders Frauen hatten sich durch komplizierte Beziehungen zu Ärzten in die Lage versetzt, den Betrieb oft und unkontrolliert zu verlassen. Der Satz: Ich muß zum Arzt, von einer weiblichen Angestellten ausgesprochen, war eine Art Antrag für eine oder zwei Stunden Freiheit. Aus Scham wagte niemand, die Arztbeziehungen der Frauen zu kontrollieren. Damit war es nun vorbei. Die Gleitzeit war plötzlich nichts weiter als ein minutengenaues Kontrollinstrument geworden. Das Glück des kurzen Verschwindens war technisch nicht mehr möglich. Ein Gefühl des Betrogenseins machte sich in der Firma breit. Ajax hatte wieder einmal gewonnen, und er hatte es noch nicht einmal vorher gewußt. Die Angestellten waren es selbst gewesen, die ihre Einkreisung zuerst herbeigewünscht und dann durchgesetzt hatten. Eine Atmosphäre fortschreitender, stumpfer Vernichtung lähmte das Büro. Als offizieller Schuldiger blieb Mörst übrig. Einige Kollegen behaupteten sogar, sie seien von Anfang an gegen die Gleitzeit gewesen. Das war nicht wahr; alle waren dafür gewesen oder hatten, wie Abschaffel, gleichgültig geschwiegen. Einige versteckten ihre Vorwürfe an Mörst geschickter; sie argumentierten, Mörst als Betriebsratsvorsitzender hätte von dieser Entwicklung wissen und warnen müssen. Für sie war Mörst ein schlechter Betriebsrat geworden. Mörst seinerseits war gekränkt. Er reagierte überhaupt nur noch mit geschnauften Bemerkungen. Zur Zeit widmete er fast nur dem todkranken Gersthoff seine Kraft. Außer Gersthoff war zur Zeit noch Abschaffel in seiner Gunst, allerdings nur auf Grund Mörsts falscher Interpretation von Abschaffels Gleichgültigkeit. Weil sich Abschaffel weder vorher auf die Gleitzeit gefreut hatte und jetzt auch nicht zu den Verächtern gehörte, hielt ihn Mörst seit kurzem für einen einsichtsvollen, besseren Menschen. Wenigstens von ihm kamen keine Vorwürfe. Es war Abschaffel angenehm, sich von Mörst vorübergehend geachtet zu wissen, wenngleich er auf solche Bürostimmungen nichts gab. Frau Schönböck hatte die allgemeine Eintrübung des Betriebsklimas wahrscheinlich noch nicht wahrgenommen. Im Gegenteil, ihre aufgedrehten Urlaubserzählungen formten sich schon langsam zu einem neuen Bürotagesgefühl, das den Gleitzeitkrach vielleicht überspielen konnte. Halb aus Langeweile und halb aus nun schon tagelang währender Abwesenheit gelangte Abschaffel in der Mittagspause mit Frau Schönböck an einen Tisch. Am Tisch bemerkte er, daß es auch seine eigene Boshaftigkeit war, die ihn mit Frau Schönböck zusammengeführt hatte. Er wollte wissen, ob es so sein würde wie früher, daß sie ihm und ihm allein noch immer ihre Beischlafgeschichten erzählte. Seit er einmal mit ihr geschlafen hatte, hatte sie ihm fast nur noch Ereignisse aus der Ehe ihrer Schwester erzählt, die mit einem Arzt verheiratet war und in Eschborn lebte. Dieser Arzt schlief nur mit Frau Schönböcks Schwester, damit er schneller ermüdete und rasch einschlafen konnte. Frau Schönböck riet ihrer Schwester immer wieder zur Scheidung, aber die Schwester begriff noch nicht einmal, daß sie von ihrem Mann gedemütigt wurde.
Abschaffel hatte sich nicht getäuscht. Kaum hatte Frau Schönböck ihren Teller hingestellt, fing sie schon an. Stellen Sie sich vor, im Urlaub habe ich mich verliebt, sagte sie. Verliebt? sagte er und aß weiter. Ich hatte die Pille monatelang abgesetzt, sagte sie, aber vor dem Urlaub habe ich sie wieder genommen, weil ich Angst hatte wegen Vergewaltigungen und so, sagte sie. Er lachte wieder und beugte den Kopf tiefer über den Teller. Guter Gott, dachte er. Aus Angst vor einer Vergewaltigung haben Sie die Pille genommen? fragte er
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