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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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schon damit an, daß sich die jugoslawische Pächterfamilie seit Jahren weigerte, deutsch zu sprechen. Wer ein Essen bestellte, mußte unter den Augen des Obers mit dem Finger lange auf einem Punkt in der Speisekarte verharren, damit der Ober die Nummer des Essens notieren konnte. Häufig erschien der Ober nicht zum Dienst; dann mußte der Pächter seine alte Mutter als Bedienung in das Lokal schicken. Die Mutter litt so stark unter der ihr ungewohnten Anstrengung des Bedienens fremder Personen, daß sie ständig laut murmelte und, wenn sie hinter der Theke war, in den geöffneten Eisschrank hineinschrie. Aber heute war der Ober da, und Abschaffel legte gut sichtbar seinen Zeigefinger auf ein Reisgericht, von dem er wußte, daß es ihm nicht schmeckte, weil es in der Regel verkocht und verwürzt war. Das Bier brachte der Ober sofort. Abschaffel strengte sich an, einen Zeitungsartikel über ein Treffen westlicher Verteidigungsminister zu lesen, aber er kam nicht über den ersten Absatz hinaus. Wie ein warmer Strom floß die Müdigkeit in ihm herum. Er legte die Zeitung weg und beobachtete den Ober. Der Ober hatte die Eigenart, die Bestellungen der Gäste undeutlich in die Küche zu rufen. Die alte Mutter, die in der Küche kochte, verstand die Bestellungen in der Regel nicht. Dann reckte sie ihren riesigen Kopf durch die viereckige Luke zwischen Küche und Thekenraum und schrie auf jugoslawisch nach dem Ober. Inmitten der Pein strömte dieses Lokal auch eine Milde aus; es wurde hier niemand beschuldigt. Es schien ein Lokal zu sein, in dem niemand mehr seine Verkorkstheiten versteckte. Als Zentrum der Verwirrung schätzte Abschaffel den Pächter ein, der ebenfalls in der Küche arbeitete. In seinen Händen lag offenbar die technische Gesamtleitung des Lokals. Er war der geheime Mittelpunkt aller Ereignisse, und weil er sich seine im Lokal tätige Familie unterworfen hatte, neigte seine Herrschaft dazu, vorübergehend auch auf einzelne Gäste überzugehen. Mindestens einmal täglich kam der Pächter mit der Lüftung in der Küche nicht zurecht. Dann füllte sich das Lokal schnell mit Kochdunst und Rauch, und die murmelnde Alte erschien und öffnete zwei Flügelfenster. Der Dunst zog kaum ab, weil er sich schwer und fettig in den Gardinen, den Tischdecken und den Sitzbezügen festsaugte. Wenn draußen der Hund bellte, dem der Wirt eine Art Stall mit Eisengitter an der Stelle eingerichtet hatte, wo früher ein Vorgarten gewesen war, dann war drinnen klar, daß trotz allem wieder ein einzelner Gast das Lokal betreten hatte. Es kamen fast nur Fremde, die nichts wußten von den Verhältnissen der Pächterfamilie. Und der Pächter und seine Familie konnten gut leben von einmalig erscheinenden Fremden. Im Augenblick, als Abschaffel das breiig zerkochte Reisgericht bekam, betrat ein junger Motorradfahrer in voller Montur das Lokal. Abschaffel betrachtete ihn schläfrig, während er aß. Der Motorradfahrer legte seinen riesigen Sturzhelm und einen Teil seines Gepäcks auf den Boden und löste einige Schnallen seiner schwarzen Lederbekleidung. Abschaffel hatte noch nie einen derart verkleideten Motorradfahrer aus der Nähe gesehen. Er bestellte ein großes Bier, drückte am Musikautomaten eine Platte und setzte sich. Aus einem Korb auf seinem Tisch nahm er zwei Brezeln und eine Salzstange, aß sie auf und stürzte das Bier in sich hinein und zahlte und ging wieder. Abschaffel wollte noch eine Weile über den Motorradfahrer nachdenken, aber er kam nicht dazu, weil er dazu übergegangen war, einen kurzsichtigen Mann zu beobachten. Er saß mit dicken Gläsern in seiner Brille allein an einem Tisch und breitete eine Zeitung aus. Mit dem oberen Rand der Zeitung stieß er eine kleine Blumenvase auf seinem Tisch um. Die Blumen waren aus Plastik, und in der Vase war kein Wasser. Abschaffel verspürte trotz seiner fortgeschrittenen Eindämmung das Bedürfnis, die Vase auf dem Tisch des Kurzsichtigen wieder aufzustellen. Abschaffel ärgerte sich, weil er sich immer noch so lebendig vorkam. Und es war ihm unbegreiflich, wie jemand einen Gegenstand umwerfen konnte, ohne es zu bemerken. Der Mann überflog, den Kopf dicht am Papier, rasch die Seiten und schlug die Zeitung wieder zusammen. Wollte er nur die Bilder ansehen, weil die Buchstaben für ihn zu klein geworden waren? Als er die Zeitung zusammengefaltet hatte, nahm er auch noch die Brille ab, und nun sah er die umgefallene Vase erst recht nicht. Erst als er mit zugekniffenen Augen sein

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