Abschaffel
Bierglas suchte, schweifte sein angestrengter Blick auch über die umgefallene Vase. Mit einer unbegreiflichen Beiläufigkeit stellte er sie wieder auf, ließ aber seine Brille weiterhin auf dem Tisch liegen. Abschaffel bemerkte, daß von dem Mann eine Tröstung ausging, die ihm, Abschaffel, guttat. Er wünschte sich, daß es ihm eines Tages möglich sein würde, genau wie dieser Mann auf den letzten Rest Sehkraft dankend zu verzichten und die Brille nicht mehr aufzusetzen und nicht mehr zu bemerken, was er umwarf. Die beiden Biere, die Abschaffel getrunken hatte, hatten sich tief in seinen Körper gesenkt. Draußen schien die Sonne, und Abschaffel wurde mit jeder Minute schläfriger. Er zahlte, trank seinen Rest Bier aus und ging nach Hause. In seinem Zimmer brach ihm der Schweiß aus, kalter Schweiß in Mengen. Er wunderte sich nicht darüber, weil er keine Lust mehr hatte, seinen Körper zu verstehen. Er legte sich hin und schlief drei Stunden.
Am nächsten Mittwoch war Frau Schönböck aus dem Urlaub zurück. Sie war braungebrannt und schön, und ihr Gesicht blinkte. Sie trug eine Folklorebluse, die ihre Arme frei ließ, und einen groben Lederrock, den sie sich aus Jugoslawien mitgebracht hatte. Im Geldbeutel hatte sie einige jugoslawische Münzen, die sie Kollegen zeigte. Sie erzählte von der Freundlichkeit der jugoslawischen Bauern. So etwas habe ich noch nicht erlebt, sagte sie immer wieder. Sie fragte, ob ihre Postkarte angekommen war, und sie ließ sich die Postkarte zeigen, um zu Hause zu lesen, was sie selbst im Urlaub geschrieben hatte. Abschaffel achtete darauf, ihr nicht allzuoft mit dem Blick zu begegnen. Er fühlte sich nicht gut. Seit er von Margot verlassen worden war, wußte er nicht mehr recht, wie die Tage vergangen waren und wodurch sie sich voneinander unterschieden. Auch die Stimmung in der Firma war nicht gut. In den letzten Tagen war die Unzufriedenheit über die gleitende Arbeitszeit zum erstenmal offen sichtbar gewesen. Ausgerechnet Hornung, der am stärksten auf die Einführung der Gleitzeit gedrängt hatte, beschwerte sich mit halblauten Bemerkungen, die von Mörst gerade noch mitgehört werden konnten. Mörst mußte inzwischen die Überzeugung haben, daß Angestellte keine sinnvollen Wesen waren. Mörst war über die Bemerkungen von Hornung so beleidigt, daß er mit den Kollegen zur Zeit nur das Nötigste sprach. Vielleicht dachte er schon, daß den Kollegen nicht zu helfen war, es sei denn, sie hörten überhaupt auf, Angestellte zu sein. Monatelang war über die Vorteile der gleitenden Arbeitszeit geredet worden. Die Frauen hatten geschwärmt, daß sie dann besser zum Friseur gehen konnten, und die Lehrlinge redeten davon, daß sie endlich morgens ausschlafen konnten. Daß sie dafür irgendwann einmal abends länger arbeiten mußten, war ihnen nicht mit der gleichen Deutlichkeit bewußt. Auf Grund der allgemeinen Vorfreude hatte Mörst glauben müssen, die Gleitzeit sei einer der brennendsten Wünsche der Kollegen überhaupt. Täglich fast war er bedrängt worden, und täglich hatte er Kollegen vertröstet, der Chef habe sich immer noch nicht endgültig entschlossen. Und Ajax hatte lange überlegt, was ihm die Veränderung brachte und was sie ihn kostete; mit der bürokratischen Verwaltung der Gleitzeit hatte eine Sekretärin jeden Tag ein bis zwei Stunden zu tun. Schließlich war Fräulein Schindler von ihm ausersehen worden, diese Arbeiten zu übernehmen. Ajax hatte seine Wahl ausgezeichnet getroffen. Eine ältere Angestellte hätte die Wahl entweder abgelehnt oder eine Gehaltserhöhung verlangt. Aber Fräulein Schindler, die alle Seligkeiten der Handelsschule noch im Gesicht trug, glaubte freudig, mit dieser Arbeit an so etwas wie eine Führungsaufgabe herangekommen zu sein. Eifrig nahm sie ihre neuen Geschäfte wahr; noch bevor die Gleitzeit eingeführt war, war sie die Auskunftsperson für alle anfallenden Probleme geworden, und diese Arbeitsfunktion verschaffte ihr öfter am Tag einen freudig zufriedenen Kopf. Fräulein Schindler war Ajax dankbar. Er hatte das Problem glänzend gelöst.
Und jetzt diese Enttäuschung! Sie kam zustande, als die meisten Kollegen erkennen mußten, daß sie sich durch die Gleitzeit hatten dazu verleiten lassen, sich selbst falsch einzuschätzen. Es war wohl am Anfang vorgekommen, daß einige Frauen morgens zum Friseur gingen; und es geschah auch öfter, daß Hornung wie angekündigt später zur Arbeit erschien, und er war direkt genug, seine
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