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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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zurück. Ja sicher, sagte sie, diese Südländer sind doch bekannt für ihre, äh, Direktheit, nicht, und da wollte ich eben sichergehen. Und dann haben Sie sich verliebt? fragte er. Ja, sagte sie, was ist denn daran so ungewöhnlich? Abschaffel überlegte, ob er abschalten und sie weiterreden lassen oder ob er sie, wie früher, direkt auf ihre kindische Verlogenheit hinweisen sollte. Es ist ein ganz junger Jugoslawe, sagte sie, sehr schüchtern und zart, Branko heißt er. Abschaffel schwieg. Wir haben fast jeden Tag eine Bootsrundfahrt gemacht, und dann hat er mir die Hände gehalten, sagte sie. Abschaffel war dazu übergegangen, die Sätze von Frau Schönböck in Gedanken kurz zu wiederholen und sie damit auszulöschen. Wir haben fast jeden Tag eine Bootsrundfahrt gemacht, und dann hat er mir die Hände gehalten. Bootsrundfahrten und Händchenhalten, dachte er. In ihrer Sehnsucht nach Kitsch, den sie so gerne für das Leben halten möchte, machte sie mit einem Neunzehnjährigen Bootsrundfahrten. Abschaffel bemerkte, daß er sich doch zu ärgern begann. Und dieser Branko macht genau das, was sie seit fünfzehn Jahren vermißt: Händchenhalten. Es war ihm gelungen, Frau Schönböck gegenüber in seine alte zynische Verachtung zu verfallen. Wie ist es nur gekommen, fragte er sich, daß ich in dieser Firma der einzige bin, der sich in der Mittagspause den ewigen Kindergeburtstagsquatsch dieser Frau anhören muß? Plötzlich war er bereit, Frau Schönböck wie früher direkt mit ihrer eigenen Verlogenheit zu konfrontieren. Na, da haben Sie aber Glück gehabt, sagte er, daß Sie rechtzeitig die Pille genommen hatten, als Sie den Jugoslawen kennenlernten. Frau Schönböck stutzte, und in ihre Pause hinein sagte er: Und, wie war’s, haben Sie mit ihm geschlafen? Sie sind immer gleich so direkt, sagte sie. Haben Sie mir nicht genau das sagen wollen? fragte er. Ja doch schon, sagte sie. Sie haben ihn also mit in das Hotel genommen, und dort ist es dann passiert, nicht wahr, und für ihn war es möglicherweise sogar das erste Mal? fragte er, und er hatte sich bemüht, soviel Spott und Zwiespältigkeit in seine Stimme zu legen, wie ihm eben möglich war, damit sie ihm vielleicht das Mittagessen über das Hemd schüttete und vom Tisch wegging. Aber sie blieb sitzen und kicherte. Wie ein junges Hundchen ist er danach herumgesprungen, sagte sie. Es war gräßlich und fürchterlich. Die Menschen als junge Hundchen, das ist die Welt von Frau Schönböck, dachte er wütend. O Gott, es blieb nur der Blick zum Fenster. Wenn er doch nur am Fenster sein und den Rest der Mittagspause still und ungestört hinausschauen könnte. Es ist das letzte Mal, daß ich mich zu dieser Kuh an den Tisch setze, dachte er, während sie weiterredete. Er dachte den Satz gleich dreimal hintereinander, und er hatte den Eindruck, daß es wirklich das letzte Mal war.
    Kurz nach der Mittagspause, als alle wieder an ihren Schreibtischen saßen, sagte Hornung: Gersthoff hat den Prozeß verloren. Mörst war noch immer beleidigt wegen der Kritik an der Gleitzeit, aber er widersprach Hornung nicht. Hornung war kurz zuvor wegen der Regelung einer Gehaltspfändungsangelegenheit bei Frau Morlock gewesen, und wahrscheinlich hatte er bei dieser Gelegenheit von dem Prozeß gehört. Das bedeutete, daß Gersthoff sofort gekündigt war, und tatsächlich war Gersthoff heute nicht in der Firma erschienen, was Abschaffel erst am Nachmittag auffiel. Gersthoff hatte sogar etwas von dem verloren, was er bereits gewonnen zu haben schien. Ajax hatte ihm sechs Gehälter Abfindung angekündigt und versprochen, aber das Arbeitsgericht sprach ihm nur zwei Gehälter zu. Mit Gersthoff war auch Mörst geschlagen. Angeblich war es nach der Verhandlung zu peinlichen Szenen gekommen. Stellt euch vor, rief Hornung, nach der Verhandlung hat sich Gersthoff bei Ajax entschuldigt für alles, was er ihm angetan hat in den letzten Wochen! Angetan, hat er gesagt, rief Hornung. Wenn es möglich gewesen wäre, aus dem Fenster zu springen, ohne gleich tot zu sein, dann hätte Abschaffel nun das Fenster geöffnet. Es war unerträglich. Ein Idiot redete über die Idiotien eines anderen Idioten. Abschaffel war erschöpft und müde, und die Gesichter der Kollegen ekelten ihn. Seine Schneidezähne schmerzten. Sie schmerzten nicht sehr, es war nur ein kleines, wanderndes Ziehen im Oberkiefer, aber er war dankbar dafür, weil der Schmerz ihm half, sich ganz mit sich selbst zu beschäftigen. Haben Sie

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