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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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einsamen Zweiertisch. Es gab nur weibliche Bedienungen. Sie waren einheitlich bäurisch-ländlich gekleidet; über tiefblauen, dirndl-ähnlichen Kleidern trugen sie weiße Schürzen, die auf dem Rücken mit einem großen Schlupf zusammengebunden waren. Abschaffel erhielt eine schwere, in Leder gebundene Speisekarte. Er bestellte Stummente mit Kroketten. Er wollte Wein dazu trinken, kannte aber die Weinsorten nicht. So bestellte er nach dem Preis; ein Viertel Wein, das fünf Mark kostete, mußte wohl ein guter Wein sein. Er merkte sich den Namen des Weins, den er auch nicht erst, wenn er mit dem Mädchen hier saß, aussuchen wollte. Es war ein Auggener Schäf, ein südbadischer Wein, ein Riesling. Auggener Schäf, diesen Wein wollte er vorschlagen.
    Er wartete auf die Stummente und dachte an seinen Plan. Schon eine ganze Weile widmete er sich dem Problem, was er morgen anziehen sollte. Sollte er gut gekleidet erscheinen oder wie immer? Wie immer hieß, daß er irgendeine Jacke und irgendeine Hose trug, darunter irgendein Hemd. Aber in dieser Aufmachung wollte er die Wende seines Lebens nicht herbeiführen. Wenigstens eine frisch gereinigte Hose und einen sauberen Sakko müßte er haben. Beides hatte er zur Zeit nicht, und über beides konnte er bis morgen abend nicht verfügen. Genaugenommen mußte er sich einen Anzug kaufen oder eine Hosen-Jacke-Kombination, vielleicht ein paar neue Schuhe dazu. Morgen, nach Feierabend, hatte er eine ganze Menge zu tun. Es blieb ihm für die Anschaffung der Kleider und Schuhe eine gute Stunde, wenn es ihm gelang, nach fünf Uhr sofort in die Stadt zu kommen. Vielleicht ließ er sich von jemand mitnehmen. Vorher mußte er auch noch auf die Bank. Weil die Bank aber schon um fünf Uhr eine Stunde lang geschlossen hatte, mußte er in der Mittagspause schnell in die Stadt und Geld holen. Er wollte sechshundert Mark abheben. Soviel hatte er noch nie von seinem Konto abgehoben, aber er wußte, daß es keine Schwierigkeiten geben würde. Er hatte den üblichen Dispositionskredit, den er fast nie in Anspruch genommen hatte.
    Die Bedienung servierte die Stummente. Es war ein faustgroßes Stück Fleisch, eingerahmt von ein paar Kroketten und feinem Gemüse. Aus Aufregung aß Abschaffel viel zu schnell. Auch den Wein trank er zu schnell. Er zwang sich zu langsamen Bewegungen. Warum war er denn immer so eilig? Auch jetzt noch, als er absichtlich seine Bewegungen verzögerte, meinte er in jeder Sekunde, seine Bewegungen seien gar nicht seine Bewegungen, denn wären es seine Bewegungen, dann müßten sie schneller sein. Deshalb ging er wieder zu schnellem Essen und schnellem Trinken über. Er fragte sich, ob seine Eile bestimmte Anteile seiner Person vernichten wollte. Er überlegte und überlegte, aber weil es nicht schnell genug voranging, hörte er auf, über seine Eile nachzudenken.
    Er bestellte ein weiteres Viertel Auggener Schäf und betrachtete die wenigen Gäste; sie waren sehr gut gekleidet und unterhielten sich leise. Die Frauen genossen es, an der Seite von sicheren Männern zu Abend zu essen. Abschaffel sah wieder in sein Weinglas und überlegte, ob er in ein geschlossenes Bordell gehen oder ob er sich auf der Straße ansprechen lassen sollte. Früher war er fast nur in geschlossene Häuser gegangen, aber er neigte dazu, sich morgen auf der Straße ansprechen zu lassen. Diese Art des Kontakts war zwar sicher umständlicher, aber er versprach sich davon, schneller an seine Einladung anknüpfen zu können. Je nachdem, was ihm die Frau auf der Straße gesagt hatte, er würde es aufgreifen können.
    Inzwischen war es halb neun geworden. Das Restaurant war noch immer halbleer. Für ihn war das ein gutes Zeichen; er fühlte sich nicht beobachtet. Sein Kopf war matt und schwer geworden. Er hatte den Eindruck, schon lange nicht mehr so viel gedacht und überlegt, verworfen und wieder angenommen zu haben wie in den letzten zwei Stunden. Lange wollte er nicht mehr hierbleiben. In seinem Glas stand nur noch ein kleiner Rest Wein. Da fing er doch noch einmal an, einen größeren Komplex zu überlegen: wie das Mädchen aussehen sollte. Am besten war, das Mädchen sah nicht aus wie eine Nutte. Er wußte, daß es den Typ der ernsten, nicht auf sich selbst verweisenden Nutte gab, wenn auch sehr selten. In der Regel sah eine Hure aus wie eine Hure, das heißt gräßlich herausgeputzt, in jeder Weise überschminkt und übertönt und überformt: wie hellgrüne oder rosafarbene Rummelplatzbären. Ein paar

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