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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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eingekauft hatte. Eine grauenvolle Sehnsucht überkam ihn. Zitternd rasierte er sich zu Ende, und aus Wut fing er zwei Fliegen, die er im seifigen Rasierwasser versenkte. Die Fliegen stießen sich ein paarmal im Wasser umher und bewegten sich dann nicht mehr. Er fühlte sich steif werden. Ein nicht für möglich gehaltener Schmerz zog in ihn ein. Es war, als würden von unten zwei Eisenstangen in seinen Körper eingetrieben. Oder brannte sein Mundinnenraum? Gab es irgendwo kleine Flammen in seinem Kopf? O Gott, wenn dieser Schmerz künftig zu seinem Leben gehörte, dann wollte er das Leben nicht mehr haben. Er stellte das Radio ab und sah aus dem Fenster. Langsam beruhigte er sich wieder. Frisch rasiert setzte er sich auf einen Stuhl und machte sich Sorgen. Er ging noch einmal in die Küche zurück und holte sich eine Flasche Bier, weil er wollte, daß es zu den Sorgen wenigstens Bier gab. Es war wieder einmal soweit, daß er seinen Sorgen die Gewißheit geben mußte, daß er noch da war und die Sorgen sich nicht zu sorgen brauchten, er könnte ihnen nicht mehr zur Verfügung stehen. An diesem Abend fingen seine Sorgen das Thema Eltern an. Er hatte sie schon lange nicht mehr besucht, und sie hatten ebenfalls nichts von sich hören lassen. Konnte es denn sein, daß die Eltern und er sich schon zu Lebzeiten für immer voneinander getrennt hatten? Er hatte kein Bedürfnis, die Eltern zu sehen, und eben darum machte er sich Sorgen: Warum habe ich kein Bedürfnis, die Eltern zu sehen? Nachdem er sich über die Wahrheit der Trennung eine Weile gesorgt hatte, sorgte er sich um das Schicksal der Mutter, wenn sie einmal allein sein würde. Sie bekam eine gute Rente, das war sicher, und wenn der Vater starb, würde sie allein weiterleben. Das war alles, aber unbegreiflicherweise machte er sich darüber Sorgen. Die andere Möglichkeit, daß die Mutter zuerst starb und der tapsig gewordene Vater übrigblieb, ließ ihm gleich ein ganzes Rudel von Sorgen in den Kopf schießen. Abschaffel konnte sich nicht vorstellen, wie dieser klein und krumm gewordene Vater in seinen alten Hosen zum Beispiel die Butter im Kühlschrank finden sollte, wenn die Mutter einmal nicht mehr da sein würde, die ihm die Butter seit vierzig Jahren auf den Tisch stellte. Wahrscheinlich würde ihm eines Tages die Butter ausgehen, und daran würde er feststellen, daß seine Frau nicht mehr in der Wohnung sein konnte. Es war unerträglich. Die Sorgen entsetzten ihn so sehr, daß er aufstehen und im Zimmer umhergehen mußte. Er hoffte, auf andere Gedanken zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Er setzte sich und sorgte sich weiter.
     
    Am folgenden Morgen bemerkte er im Büro, daß schon Donnerstag geworden war. Fräulein Schindler hatte Geburtstag, und weil er für den Abend von ihr eingeladen worden war, gratulierte er ihr. Er hatte das Gefühl, daß ihm die Gratulation gelungen war. Fräulein Schindler errötete ein wenig, und Abschaffel lachte kurz. Frau Hannemann hatte Fräulein Schindlers Schreibtisch in einen Geburtstagstisch verwandelt. Von dem eingesammelten Geld hatte sie eine hellbeige Handtasche gekauft, und Fräulein Schindler sagte mehrfach, daß ihr die Handtasche gefiel. Außerdem hatte Frau Hannemann eine kleine Flasche Cognac, einen Blumenstrauß und einen selbstgebackenen Kuchen auf Fräulein Schindlers Schreibtisch gestellt. Frau Hannemann erzählte, wie sie heute morgen im Bus auf den Kuchen hatte aufpassen müssen, damit er nicht zerdrückt wurde. Es entstand eine heitere, freundliche Stimmung. Frau Morlock, die Sekretärin von Ajax, überbrachte Glückwünsche und ein Geschenk. Fräulein Schindler packte es feierlich aus, und es war ein schweres, in Leder eingefaßtes Zimmerthermometer. Fräulein Schindler freute sich erregt und bedankte sich überschwenglich bei Frau Morlock. Abschaffel beobachtete die Ereignisse aus ungefähr fünfzehn Metern Entfernung. Er stellte sich vor, wie Fräulein Schindler das neue Thermometer in ihrem Appartement anbrachte. Er sah das Thermometer sogar einige Jahre später in einem großen REPRÄSENTATIVEN Wohnzimmer hängen, das Fräulein Schindler sicher gehörte, wenn sie erst verheiratet war. Und er redete zu sich, wie er sich vorstellte, wie Fräulein Schindler redete, wenn sie dann die Herkunft des Thermometers erklärte: Das habe ich von meinem früheren Chef geschenkt gekriegt zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, das war überhaupt eine schöne Zeit damals, so gut habe ich es nie wieder gehabt,

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