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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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glaubte er, ein hohles Gebirge zu sein, wenig später war er überzeugt, sein Körper sei nur noch eine Plastiktüte mit altem Blut. Wenn er ein oder zwei Stunden fast bewegungslos an seinem Schreibtisch saß, fürchtete er, daß sich ihm in den äußeren Ecken seiner Augen, wie bei den größeren Echsen und Krokodilen, eine bleibende, zähe Flüssigkeit bildete, die die Bewegungen der Augen mitvollzog. Er stellte sich diese Flüssigkeit gelblich bis grau vor und von langsam stärker werdender Konsistenz, so daß er in späteren Jahren die Augen gar nicht mehr richtig öffnen und schließen konnte, sondern eine Art Notblick übrigblieb, der sich durch zwei kleine Augenschlitze gerade noch aufrechterhalten ließ. Zwei Tage nach Gersthoffs Tod war der für ihn bestimmte Präsentkorb verschwunden. Niemand wußte, wer ihn gestohlen hatte. Wahrscheinlich hatte ihn eine ausländische Putzfrau mit nach Hause genommen. Es ärgerte sich niemand darüber. Ein Präsentkorb für einen Toten war sowieso unangenehm, und Mörst war froh, daß die Angelegenheit auf diese Weise aus der Welt geschafft war. Er verzichtete auf jegliche Nachforschung. Er war am Montag bei Gersthoffs Beerdigung gewesen, aber er hatte kein Wort darüber verloren.
    An einem seiner Feierabende entdeckte Abschaffel im Erdgeschoß des Treppenhauses plötzlich eine Hausordnung. Sie enthielt neunzehn kleingedruckte Verbote. Er schämte sich, als er die Hausordnung sah. Er konnte die neue Hausordnung kaum ansehen. Wirklich ging der Druck eines allgemeinen Verbots, der von der neuen Hausordnung sofort in das Haus einströmte, ohne daß es der Lektüre der neunzehn Einzelverbote bedurft hätte, mit ihm gleich so weit, daß er glaubte, das Stehenbleiben vor der Hausordnung gehöre schon zu den neuen Verboten. Es blieb still im Treppenhaus, und er hatte umsichtig begonnen, die Hausordnung anzusehen. Einige der Verbote waren mit rotem Filzstift unterstrichen. Vielleicht richteten sich einzelne Verbote nur gegen bestimmte Hausbewohner, und Abschaffel lernte diese Hausbewohner nun an den Verboten kennen, die für sie unterstrichen waren. Er wollte noch immer nicht, daß ihn ein anderer Hausbewohner beim Lesen antraf. Einerseits war er beschämt darüber – immerzu war er beschämt: Warum hatte die ganze Welt Zugang zu seiner Scham? –, daß ein Mensch hatte glauben können, in diesem stillen Haus sei eine Hausordnung nötig, und andererseits glaubte er, die Hausordnung sei überhaupt nur seinetwegen angebracht worden. Er las die unterstrichenen Verbote zuerst. ROLLÄDEN UND JALOUSIEN DÜRFEN BEI REGENWETTER NICHT HERAUSGESTELLT WERDEN . Das galt sicher nicht für ihn. Er wußte nicht einmal genau, ob es an seinen Fenstern überhaupt Rolläden oder Jalousien gab. UNBEDINGTE RUHE IST VON 13 BIS 15 UHR SOWIE NACH 22 UHR EINZUHALTEN. IN DIESER ZEIT IST JEGLICHES MUSIZIEREN UNZULÄSSIG. RUNDFUNKEMPFANG IST BEI ZIMMERLAUTSTÄRKE GESTATTET . Auch dieses Verbot konnte ihm nicht gelten. In den letzten Tagen war er sogar vor 22 Uhr im Bett gelegen, und in seiner Wohnung war es so still wie in einem Wald gewesen. Auch das dritte unterstrichene Verbot konnte ihn nicht meinen: BADEN IST NACH 22 UHR WEGEN DES WASSERGERÄUSCHES ZU UNTERLASSEN . Er badete zwar oft, weil es ihm half, aus seiner Niedergeschlagenheit herauszufinden, aber er badete in der Regel am frühen Abend.
    In seiner Wohnung angelangt, konnte er die Hausordnung überhaupt nicht mehr verstehen. Wo war der Lärm, gegen den sich die Hausordnung richtete? Alles, was es in diesem Haus überreichlich gab, war Stille und Fremdheit. Oder gab es Kämpfe zwischen einzelnen Wohnparteien, von denen Abschaffel nichts ahnte? Er stellte das Radio ein, und er hörte eine klagende, orientalische Musik, die ihm sofort gefiel. Er hörte einen Flötenspieler, dazu eine Trommel und eine kehlige, männliche Stimme. Es war ein schönes lautes Gejammer in seinem Zimmer. Die Musik erinnerte ihn an die Musik der türkischen Kassettenverkäufer auf dem Flohmarkt, die er irgendwann einmal, als er seine Absichten noch ausführte, hatte besuchen wollen. Er rasierte sich und versuchte, in die jammernde Stimme des Sängers mit einzufallen. Es mißlang. Er ging in das Zimmer und stellte die Musik ein wenig lauter. Als er in das Bad zurückkam, fielen ihm die beiden weißen Socken auf, in die er je eine Sandale hineingestopft hatte, das Denkmal für Margot. Wie schön war es damals gewesen, als er Wein, Käse und Brot für die Margotabende

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