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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sehr er allein war. Nämlich so allein, daß er schon Zuflucht nahm zu einem kleinen Tier. Natürlich hatte Abschaffel keinen Goldhamster, und alle wußten es. Aber das war auch nicht wichtig. Eine Beleidigung mußte nicht unbedingt etwas Wahrhaftiges aussprechen, damit sie wirken konnte. Sie wirkte vielleicht um so mehr, je ungenauer sie war, je größer der Raum der Bedeutungen war, den die Beleidigung aufstieß. Und Hornung hatte ausgesprochen, daß Abschaffel, wenn er einen Goldhamster gehabt hätte, die ordentliche Fürsorge für ein solches Tier wichtiger gewesen wäre als das abendliche Zusammensein mit Kollegen. Seine allereigenste Angst, das Grauen vor der zunehmenden Gewißheit nämlich, die anderen in ihrer Normalität nicht annehmen zu können, war damit nach außen gekehrt worden.
    Obwohl er gar nicht nach Hause gehen wollte, hatte er bereits wieder diese Richtung eingeschlagen. Auf gar keinen Fall wollte er in seinem Zimmer sein. Die Kränkung von Hornung hob ihn in die Höhe und ließ ihn wieder fallen. Als er auf der Mainbrücke war, hatte er das Gefühl, daß die ganze Welt zu einem kleinen Zimmer zusammengeschrumpelt war, in dem fortwährend Beleidigungen ausgesprochen wurden. In diesem Zimmer mußte auch er auf die Welt gekommen sein. Er blieb auf der Brücke stehen und sah auf das dunkle Wasser des Mains hinunter, und er wünschte sich plötzlich, ein Fisch zu sein. Wann wird es soweit sein, überlegte er, daß ich als lächerlicher Fisch in einem kleinen See schwimme? Ich werde belanglos darin umherschwimmen und darauf warten, daß Kinder in Sonntagskleidern am Ufer stehen und große trockene Brotbrocken in das Wasser werfen. Dann werde ich blöde anschwimmen und, wie es die Art dieser Fische ist, das Brotstück eine lange Strecke mit dem Maul vor mir hertreiben, ohne den Brocken fassen zu können. So werde ich, den Brotbrocken vor dem Maul, meine Kreise im See ziehen; dabei wird mir nichts aufgehen, und immer werde ich kurz davor sein, meinen ohnehin stark verkleinerten Verstand zu verlieren. Und schließlich werden meine nervös gewordenen Fischlippen bemerken, daß die harte Außenrinde des Brockens langsam aufweicht, und schon werde ich mich, blöde wie ich dann sein werde, übertrieben darauf freuen, endlich an den Beginn des Essens denken zu dürfen. Und ich hoffe schon jetzt, daß dies das letzte Mal sein wird, wo man mich kränken kann; ich werde nämlich bemerken müssen, daß die sich endlich vom Brocken lösenden Kleinteile inzwischen so weich geworden sind, daß ich gar nicht feststellen kann, ob ich kaue und was ich kaue. Ich weiß gar nicht, ob Fische enttäuscht sein können, ich stelle es mir einmal vor, und also werde ich von dem Brocken ablassen und in der größten Enttäuschung, die ich als Fisch zusammenkriegen kann, in die Mitte des Sees schwimmen und dort, weil es gar nicht anders weitergehen kann, nach Art aller Lebewesen meine Enttäuschung langsam vergessen und zu meiner albernen Gier zurückkehren. Und, wenn am Ufer erneut ein harter Brotbrocken auf das Wasser aufklatscht, werde ich wieder sofort hinschwimmen und den Brocken mit ganz und gar unangemessenen Hoffnungen vor mir hertreiben.
    Er verließ die Brücke und betrat am anderen Mainufer eine kleine Bierwirtschaft. Einige Männer standen an der Theke und sahen in ihre Gläser. Er gab der Frau hinter dem Thresen ein Fünfzig-Pfennig-Stück und bat darum, ihm fünf Groschen dafür zu geben. Ich muß telefonieren, sagte er eilig. Mit der nassen rechten Hand reichte ihm die Wirtin fünf nasse Münzen. Es war ein Gemisch aus Spülwasser und Bier, und er trocknete die Münzen nicht vorher ab, als er sie in der nächsten Telefonzelle in den Apparat einwarf. Frau Hornung meldete sich sofort. Es war, als wäre sie neben dem Apparat gesessen und hätte jeden Augenblick einen Anruf erwartet. Hier ist Abschaffel, sagte er. Herr Abschaffel! sagte sie überrascht, wissen Sie, wo mein Mann ist? Er ist heute abend nicht nach Hause gekommen und hat nicht gesagt, wo er ist. Frau Hornung redete schnell und heftig, und sie wartete, daß er etwas sagte, aber er schwieg bedeutsam. Ist etwas passiert? fragte sie. Ich weiß, wo ihr Mann ist, sagte er und wartete ein wenig. Dann sagte er: Er sitzt in einer Kneipe und feiert den Geburtstag einer Kollegin. Und Sie? fragte Frau Hornung zurück, sind Sie nicht dabei? Ich war bis eben dabei, antwortete er, aber ich habe keine Lust mehr. Wieviel Arbeitskollegen sind denn bei der Feier? fragte

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