Abschaffel
Schmücker wies ihn in ein kleineres Zimmer, das nur mit einer Sitzbank und einem Spiegel ausgestattet war. Bitte, ziehen Sie die Obersachen aus, sagte der Arzt und verschwand. Abschaffel saß nicht lange darin, da wurde die schmale Tür geöffnet, und es erschien eine Assistentin. Sie führte ihn in einen abgedunkelten Röntgenraum. Das Hemd hatte er inzwischen ausgezogen, das Unterhemd noch nicht. Er genierte sich. Die Assistentin sah, daß er nicht sehr beweglich war, und half ihm, das Unterhemd über den Kopf zu ziehen. Legen Sie sich mit dem Rücken bitte hier drauf, sagte die Assistentin. Er saß auf der Pritsche und traute sich nicht, sich wirklich hinzulegen. Die Assistentin drückte ihm mit der Hand den Kopf nach unten, bis er lag. Sie schraubte von oben den Röntgenapparat auf seinen Oberkörper nieder, bis er aufsetzte. Der Apparat machte ein paar Aufnahmen, dann durfte Abschaffel aufstehen und sich wieder anziehen. Das Unterhemd zog er nicht mehr an, sondern stopfte es in eine Plastiktüte, die er bei sich hatte. Die Assistentin bat ihn in ein neues Wartezimmer, in dem zwei Frauen und ein Mann saßen. Sie sahen alle auf den Boden, und Abschaffel sah ebenfalls auf den Boden. Er wartete zwanzig Minuten, dann wurde er in ein großes Sprechzimmer gerufen. An der Seite war ein Projektionsapparat, auf dessen Bildfläche ein von innen angeleuchtetes Röntgenbild aufgezogen war. Dr. Schmücker betrat den Raum, eine grüne Karte in der Hand. Das ist Ihr Rücken, sagte er und setzte sich. Abschaffel sah auf das große, ausgeleuchtete Röntgenbild und konnte natürlich nicht glauben, daß dies hier ein Bild seines Rückens sein sollte. Haben Sie schon in der Kindheit zuwenig Kalk gehabt? fragte er. Doch ja, sagte Abschaffel, ich glaube, meine Mutter hat mir mal eine Weile Kalktabletten gegeben, als ich noch zur Schule ging; damals war ich eben immer so blaß. Das sind Sie heute noch, sagte Dr. Schmücker. Dann habe ich mal einen Ausschlag gehabt, sagte Abschaffel, vor fünf Jahren ungefähr war das, da hatte ich den ganzen Körper voll mit roten Flecken, und dann habe ich auch große Kalktabletten gekriegt. Was essen Sie denn? fragte der Arzt. Normal, sagte Abschaffel. Was heißt normal? fragte Dr. Schmücker; essen Sie Gemüse? Nein, ich glaube nicht, sagte Abschaffel. Das ist schon nicht normal, sagte Dr. Schmücker; wahrscheinlich haben Sie sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren vollkommen falsch ernährt. Es entstand eine Pause. Dr. Schmücker sah schweigend auf das Röntgenbild. Dann blickte er Abschaffel an. Ich weiß nicht, sagte Dr. Schmücker, eine solche Wirbelsäule wie die Ihre habe ich noch nicht gesehen. Zwischen D 4 und D 9 ist alles vollkommen eingesteift; wie alt sind Sie? Einunddreißig, sagte Abschaffel. Ihrem Skelett fehlt der Kalk, sagte Dr. Schmücker. Sie müssen sich vorstellen, ein Knochen ist kein totes Ding. Jeder Knochen lebt. Jeder Knochen gibt ständig Substanz ab und kriegt neue Substanz dazu, ein ewiger Anbau und Abbau. Und bei Ihnen ist der Anbau neuen Knochens stark verringert, während der natürliche Abbau unvermindert weitergeht. Atrophie, Knochenschwund auf deutsch. Schwere Osteoporose, sagte Dr. Schmücker. Ihre Knochenbälkchen werden immer schwächer. Wenn Frauen es haben, kriegen sie männliche Hormone gespritzt. Was bei Männern los ist, wenn sie das haben, weiß man bis heute nicht genau. Dr. Schmücker erhob sich und trat vor das Röntgenbild. Sie haben den typischen Osteoporoserücken von älteren Frauen. Ich könnte Ihnen zehn Spritzen geben und einen Karton voll mit Kalktabletten, die Sie in einem Jahr schlucken müßten. Aber das ist bei Ihnen nicht das richtige. Bei Ihnen kommt nämlich, sehen Sie hier, eine beginnende Spondylarthrose hinzu. Was ist das, fragte Abschaffel leise. Das ist eine chronische Wirbelsäulenversteifung. Es ist alles da; Rundrücken, überstreckte Halswirbelsäule, leicht gebeugte Hüft- und Kniegelenke. Und Ihre Schmerzen kommen daher, weil während der Versteifung Nervenwurzeln mit eingemauert werden. Das ist fürchterlich, nicht wahr?
Dr. Schmücker sah auf die grüne Karte. Abschaffels Augen lagen so weit hinten in seinem Kopf, daß er glaubte, die Behandlung betreffe eigentlich seine Augen, die dringend wieder nach vorne geholt werden müßten. Zum erstenmal nahm er seine Erkrankung ernst. Die Situation bei Dr. Schmücker erinnerte ihn an frühere Stadien seines Lebens, in denen er plötzlich erfuhr, daß etwas nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher