Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
weiterging. Er fühlte sich wie damals, als ihm der Fotohändler sagte, sein Fotoapparat sei ein wertloses Ding. War sein Rücken nun auch ein wertloses Ding geworden? Irgendwie ging das Leben immer gerade zu Ende. Abschaffel spielte mit Stoffflusen in seiner Jackentasche.
    Was machen wir denn mit Ihnen? fragte Dr. Schmücker. Sie sind doch noch so jung! Haben Sie Kummer? Seelische Belastungen zu Hause? In der Firma? Abschaffel schwieg. Er fühlte sich ertappt; er glaubte, alles, worunter er litt, müßte er nun auch noch verantworten. Er wollte schnell weg. Das beste wäre, Sie würden sich mal fünf oder sechs Wochen in eine Klinik verdrücken. Waren Sie schon mal in Kur? fragte Dr. Schmücker. Nein, sagte Abschaffel. Dr. Schmücker setzte sich noch einmal vor Abschaffel hin und sagte: Der Befund ist klar. Schwere Osteoporose, beginnende Spondylarthritis. Wenn nichts unternommen wird, gehen Sie in vier Jahren am Stock, in zehn Jahren liegen Sie gelähmt im Bett und müssen gefüttert werden. Aber das ist sozusagen nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, daß ich nicht sagen kann, was Ihnen im Genick sitzt. Verstehen Sie das? Das kann ich auch nicht feststellen. Ich kann nicht sagen, was Sie lähmt. Sie sind zu jung für diese Krankheit, zwanzig Jahre zu jung. Ich schreibe Ihnen eine Überweisung für den Psychotherapeuten Dr. Troogenbuck, der hat hier drei Häuser weiter seine Praxis. Ich bin dafür, daß Sie sechs Wochen Heilbehandlung machen. Außerdem schreibe ich eine Überweisung an Dr. Rüst, dort machen Sie einen Schilddrüsentest. Sie sind am Hals ein bißchen geschwollen. Es könnte sein, daß Ihre Schilddrüse nicht richtig arbeitet.
    Dr. Schmücker saß an seinem Schreibtisch und schrieb die Überweisungen. Dann gab er ihm beide Scheine in die Hand. Dies für Dr. Troogenbuck, dies für Dr. Rüst, sagte er. Wenn Sie bei beiden Kollegen waren, warten Sie. Sie kriegen schriftlichen Bescheid. Danke, sagte Abschaffel und steckte beide Scheine in die Brieftasche. Eine Assistentin zeigte ihm den Ausgang, und er war wieder draußen.
    Er war hungrig und müde und sentimental. Er lief sofort in die Innenstadt. Seht her, ich habe den Rücken einer alten Frau bekommen, wie phantastisch. Er fühlte sich so sentimental wie ein italienischer Schlagersänger im Fernsehen. Zugleich fühlte er sich so ernst, daß er sich über seine eigene Sentimentalität als Schlagersänger empörte. Er wollte sich im Fernsehen jammern sehen und dann sein eigenes Bild abstellen. Seht her, mein alter Frauenrücken. Osto oder Ostopo oder wie oder was. Mit dem Rücken einer alten Frau suchte Abschaffel eine gute Sitzgelegenheit. Er überlegte, ob er nicht seinen alten Frauenrücken entblößen, sich an den Straßenrand setzen und einen umgestülpten Hut neben sich legen sollte. Junger Bettler mit altem Frauenrücken! Ob ihm die Leute etwas in den Hut warfen? Wahrscheinlich nicht, dachte er. Ein Frauenrücken allein wäre zu wenig, ich müßte schon noch mindestens einen Ziegenkopf haben, dann würde mich der Kaufhof vielleicht unter Vertrag nehmen.
    Es war erst zwölf Uhr. Er lief in der Stadt herum und suchte nach einem geeigneten Café oder Restaurant, in dem möglichst wenig Lärm war. Er suchte und suchte, und er sah in der B-Ebene einen Bettler sitzen. Er zitterte mit den Händen, um seine Bettlerhaftigkeit deutlich zu machen. Abschaffel beobachtete ihn eine Weile, und er sah, wie der Bettler nach einer Weile seinen Hut nahm und nachprüfte, wieviel er an diesem Morgen eingenommen hatte. Ganz ohne Zittern in den Händen griff er in den Hut und zählte die Münzen und steckte sie in die Manteltasche. Er stellte den Hut wieder neben sich und verfiel wieder in sein Händezittern. Abschaffel lief weiter auf eine Rolltreppe zu und fuhr wieder an das Tageslicht. Es genügte nicht, daß der Bettler in verrotteten Kleidern auf dem Steinboden saß, er mußte künstlich mit den Händen zittern, und am Ende war auch das nicht von besonderer Wirkung. Osto oder Ostopo müßte er haben, überlegte Abschaffel, dann käme er in Kur und müßte nicht blöde mit den Händen zittern.
    Er betrat eine türkische Imbißstube und bestellte ein Hammelfleischgericht. Der Türke hinter der Theke fühlte sich geschmeichelt, einen Nichttürken in seinem Lokal zu sehen, und gab sich besondere Mühe. Das Lokal war voll. Abschaffel beobachtete einen kleinen dunklen Mann mit über der Nase zusammengewachsenen Augenbrauen. Aus zwei Lautsprechern tönte

Weitere Kostenlose Bücher